2. Die Liebe trägt die Seele wie die Füsse den Leib

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Ich kann mich der Magie nicht entziehen; verstehe nicht, wie mir geschieht. Ich könnte weinen und lachen gleichzeitig. Äusserlich bin ich ganz still, doch innerlich ist mein ganzes Sein in Aufruhr. Ich versuche, zu rationalisieren, zu relativieren. Fakt ist, es steht ein Mann auf einer Bühne und singt. An sich nichts Aussergewöhnliches. Aber Fakt ist auch, dass jede Faser meiner Seele von ihm berührt ist. Ich bin spirituell, ja. Aber keine Esoterikerin. Und doch fühle ich, nein, weiss ich mit absoluter Gewissheit, dass dieser Mann ein schweres Paket getragen hat. Dass er sämtliche Tiefen menschlichen Daseins durchgemacht hat. Wie kann das sein? Wie kann ich so etwas spüren? Verliere ich jetzt den Verstand? Ich weiss nur, dass er nach der Kelly Family-Zeit ins Kloster gegangen ist, habe aber keine Ahnung, aus welchen Gründen und habe das weder damals noch heute verfolgt. Also was will ich hier bitte von einem Menschen „spüren", über den ich seit 20 Jahren nichts Aktuelles weiss? Und doch strömt alles regelrecht durch mich hindurch, als wären es meine eigenen Empfindungen. Gleichzeitig ist jede Faser meines Seins mit Glück erfüllt und mit Leben durchflutet. Ich spüre ein Leuchten von innen heraus, das sich von der Brustregion her weiter und weiter ausbreitet. Es grenzt schon an Ausserkörperlichkeit; ich habe das Gefühl, als würde ich schweben. Caro schreit mir ins Ohr: „Na? Er ist gut, was?" Ich kann nur lächeln und wie mechanisch nicken. Nun steigt er von der Bühne, rennt nach links zum Anfang der ersten Reihe und klatscht Hände ab. Ab und zu steigt er auf einen Tritt auf seiner Seite des Absperrgitters und singt ein paar Takte von da oben. Um mich herum werden die Frauen hysterisch; versuchen, ihn irgendwie berühren zu können und drängeln, was das Zeug hält. Dann ist er plötzlich auf dem Tritt gleich neben mir. Ich spüre einen festen Händedruck, wundere mich über ein Kribbeln im ganzen Körper, sehe hin und merke, dass er es ist, der meine Hand hält. Er hat nicht nur abgeklatscht. Als ich zu ihm hochsehe, treffen sich unsere Blicke. So viel Nähe haut mich um, ist fast zu viel. Er hält immer noch meine Hand. Er starrt, ich starre zurück. Ich sehe dunkelblaue Augen. Ich spüre Melancholie. Ich sehe Schmerz und Verzweiflung. Ich sehe ganz viel Tiefe und Lebenslust. Ich sehe irische Klippen und höre irische Volkslieder. Zeit und Raum scheinen nicht mehr zu existieren. Just in diesem Moment vergisst er den Text, in den er hätte einsetzen sollen, lässt meine Hand los, katapultiert mich damit wieder ins Hier und Jetzt und lässt mich taumelnd zurück.
„Ok, Ladies and Gentlemen, sorry for that! Texthänger!" Während alles rundherum lacht, singt er weiter, steigt vom Tritt runter und marschiert zurück in Richtung Bühne. Auf der Bühne beendet er das Lied und bedankt sich. Bäm. Wieder ein Blick. Wie würde man diesen Ausdruck in seinem Gesicht nennen? Erstaunen? Hatte er das eben auch gespürt? Caro tippt mir hektisch an die Schulter und ruft mir zu: „Was war das denn bitte?!"
Ich hebe nur ahnungslos die Arme und lasse sie wieder sinken, denn ich habe beschlossen, dass es keinen Sinn machen würde, das eben Geschehene wie gewohnt zu zerdenken. Ich kann es so oder so unmöglich mit dem Kopf greifen. Während des restlichen Konzerts bin ich völlig neben der Spur und wie in einem Taumel aus Glück und Verwirrung. Total geflasht.
„Kommt gut nach Hause", höre ich Paddy nach den Zugaben aufgekratzt rufen, „hat Spass gemacht, God bless you..." Bäm. Blick in meine Richtung. „And may God bless your beautiful soul..." Ok, das kann nicht eingebildet gewesen sein. Das war definitiv an mich gerichtet. Caro's Reaktion lässt nicht lange auf sich warten: „Louiiisaaa?!!" kreischt sie ausser sich. „Oh mein Gott, hast du das gecheckt?! Das hat er doch voll zu dir gesagt?!!" Sie fällt mir jubelnd um den Hals. Ich bin wie paralysiert. Was war das, kann ich nur immer wieder denken. Was. War. Das.

SoulgirlWo Geschichten leben. Entdecke jetzt