Leere Momente

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Ich bat sie nur einziges Mal um etwas. Dies war mein Wunsch an sie. Sie sollte mir zeigen, was sie fühlte.

Ihre Antwort war ein Bild.

Fünf Jahre später erinnere ich mich noch immer an diesen Tag. Dunkel, grau und mit einem Hauch von schmerzvollem Abschied in der Luft. Mir war damals schon bewusst, dass dies das letzte Mal war, an dem ich sie sehen würde. Nach dieser einen Frage würde sie mich nie wieder beachten. Doch in mir lebte die Hoffnung, was wäre, wenn alles anders kommen würde? Besteht nicht immer die Chance auf eine positive Wendung?

Wie naiv ich doch damals war.

Gerade stehe ich an der Stelle, wo ich sie das letzte Mal gesehen habe. Woche für Woche kehre ich hierhin zurück und wünsche mir, dass sie plötzlich wieder auftaucht und sich neben mich stellt.

Unser Ort war eine Brücke mitten in der Stadt, die über den Fluss führte. Wir standen dort häufig, guckten hinunter ins Wasser und entlang der gepflasterten Steine an den Uferseiten. Sahen die kahlen Bäume im Wind, beobachteten die Menschen um uns herum und blickten der aufziehenden Dämmerung entgegen.

Wir haben nie ein Wort gewechselt in all der Zeit. Der Klang ihrer Stimme blieb mir versagt. Ich wusste weder wer sie war, noch woher sie kam. Wir standen immer nur da und blieben still, während um uns herum das Leben seine Geräusche verbreitete.

Sie zu fragen, war ein Fehler, das weiß ich heute und wusste es damals schon. Trotzdem tat ich es, bat sie darum mir zu zeigen, was sie fühlte. Enttäuscht blickten ihre Augen mir direkt entgegen, nie zu vor hatte sie mir so viel Aufmerksamkeit geschenkt. Dann streifte sie einen ihrer Handschuhe ab, öffnete den Verschluss der Handtasche und zog ein Notizbuch heraus. Mit einem zweiten zielsicheren Griff entnahm sie der Tasche noch einen Stift, klappte ihr Buch auf, riss eine Seite heraus und malte mir ein Rechteck darauf. Vorsichtig drückte sie mir das Blatt in die Hand, ohne diese zu berühren. Dann ging sie. Drehte sich nicht um und verschwand leise wie der Wind in den Bäumen zwischen den Menschen, die wir so häufig beobachtet hatten. Sie kam nie wieder.

Erst Wochen nach ihrem Verschwinden verstand ich das Bild zum ersten Mal. Sie hatte mir auf das Blatt Papier ein zweites, leeres Blatt gemalt. Heute glaube ich, dass sie zu feige war, um es mir direkt zu sagen. Trotzdem verdeutlichte sie mir so, was sie fühlte.

Nichts.

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