Leseerlebnis

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Ursprünglich für den Deutschunterricht geschrieben. Das Ergebnis stellt den mehr oder weniger gelungenen Versuch eines anekdotisch verfassten Leseerlebnisses dar. 

 

Ein einziges Leseerlebnis anekdotisch zu verfassen, ist in etwa so einfach, wie Sterne oder Sandkörner zählen für mich. Die schier endlose Masse vereitelt jeden meiner Versuche und schnell befinde ich mich an einem Punkt, an dem ich mich dümmer als zu vor fühle, wobei ich mit der Aussicht auf Erkenntnis angefangen habe zu schreiben.

Dies ist nun also weniger ein einzelnes Leseerlebnis, sondern eine grobe Zusammenfassung von Erlebnissen, die mein literarisches Interesse geprägt haben.

Anfänge haben für mich eine besondere Bedeutung. Ein einzelner Satz und sogar schon wenige Wörter können ein Buch für mich besonders machen. Ein gutes Beispiel dafür ist der erste Satz in Tolstois „Anna Karenina“, dieser lautet „Alle glücklichen Familien ähneln einander; jede unglückliche aber ist auf ihre eigene Art unglücklich.“ Tolstoi zu lesen, ist eine Erfahrung, die sich kaum mit Worten beschreiben lässt, welche seiner Texte würdig sind. Im Winter kann ich mich stundenlang seinen Büchern widmen, dabei die Zeit vergessen und mir die adlige russische Gesellschaft des 19. Jahrhunderts ausmalen. Die Liste an Anfängen scheint endlos zu sein. Ob Patrick Süßkinds „Das Parfüm“, oder Kafkas „Der Proceß“, sie alle hatten eine besondere Wirkung auf mich. Ich kenne keinen Autor, der sich mit Kafka ansatzweise vergleichen ließe, zu mal mir bisher auch kein weiteres Werk begegnet ist, in dem der Autor es schafft die gesamte Handlung in nur einem Satz zu beschreiben, dann aber 200 weitere Seiten verfasst, die für große Verwirrung sorgen und wilde Interpretationen entfachen lassen. Ein ähnliches Beispiel ist Albert Camus „Der Fremde“, dessen Einleitung eine einzigartige Gleichgültigkeit ausdrückt, die gerade zu schockiert. „Heute ist Mama gestorben. Vielleicht auch gestern, ich weiß nicht. Ich habe ein Telegramm vom Heim bekommen: «Mutter verstorben. Beisetzung morgen. Hochachtungsvoll.» Das will nichts heißen. Es war vielleicht gestern.“ Nachdem ich die deutsche Übersetzung gelesen hatte, versuchte ich mich sogar an dem französischen Original, mit eher mittelmäßigem Erfolg. Trotzdem schafft es nicht jeder Autor, dass ich sein Buch in der Originalsprache lese.

Inzwischen befinde ich mich an einem Punkt, an dem ich die Anfänge längst überschritten habe und meine Eltern, die meine Lesebegeisterung zwar teilen, mich als etwas sonderbar abgestempelt haben. Dies mag zum Teil aber auch an meinem ausgeprägten Interesse für Fachliteratur liegen. Alle Bücher, die ich nun von meiner Familie geschenkt bekomme, sind als Ausgleich dafür also „normale“ zeitgenössische Werke. Indirekt verbirgt sich dahinter sicher die Aufforderung an mich, weniger Geld zu investieren und vielleicht ein paar andere Interessen zu entdecken.

Zu früheren Zeiten gab es diese Interessen sicherlich einmal. Die folgenschwere Begegnung meinerseits mit Huxleys „Schöne neue Welt“ veränderte meine Ansichten jedoch immens und das Elend meiner Bücherkäufe begann. Obwohl ich garantiert längst 2/3 der Handlung vergessen habe, weiß ich noch genau, wie sehr mich dieses Buch beschäftigt hat. Meine Mutter durfte sich sicherlich mehrere Wochen lang anhören, welche Gedanken mir dazu kamen und ich hoffe inständig, dass sie mir dies verzeiht.

Um dann doch noch ein konkretes Leseerlebnis zu nennen, erwähne ich an dieser Stelle Dostojewskis „Aufzeichnungen aus dem Kellerloch“. Gelesen von mir im Herbst, vor inzwischen einiger Zeit, kann ich nicht minder stolz behaupten, die gesamte Handlung  wieder vergessen zu haben. Widrige Umstände bilden die Grundlage meiner Entschuldigung dafür. Der Tag an dem ich das Buch gelesen habe, war der Tag meiner ersten Deutschklausur, der allerersten Klausur meiner Oberstufenzeit. Wie das Schicksal es so wollte, saß ich natürlich nicht in der Schule, sondern befand mich im Wartezimmer meines Hausarztes mit Fieber, Kopf- und Halsschmerzen. Endlose Wartezeiten gewöhnt, hatte ich also dieses Buch dabei und erfreute mich an seiner gesamten Länge, die gerade für die drei Stunden sitzen ausreichten. Bei gegebenem Anlass, diesmal hoffentlich gesund, empfiehlt es sich mir also, das Buch erneut zu lesen.

Und um zum Schluss jedes meiner Leseerlebnisse zu erwähnen, verdanke ich jedem einzelnen meinen Triumph über die deutsche Rechtschreibung. Lesen hilft tatsächlich in dieser Hinsicht und auch ohne eine einzige der Zeichensetzungsregeln je verstanden zu haben, schaffe ich es nun trotzdem, diese in irgendeiner Form anzuwenden. Ähnlichen Erfolg warte ich leider noch immer in der französischen und englischen Sprache ab, doch er lässt auf sich warten.

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