Noel saß halb aufrecht im Bett und griff nach seiner Gulaschdose.
Er starrte die Dose einen Moment an, bevor er die schreckliche Wahrheit realisierte: Er hatte keinen Dosenöffner.
Und selbst wenn er einen hätte: Er hatte keinen Löffel.
Sein Magen gab ein ungeduldiges Knurren von sich.
"Denver", flüsterte Noel. Keine Reaktion.
"Denver", flüsterte er erneut, diesmal um drei Dezibel lauter. Immer noch nichts.
"Denver", sagte Noel jetzt, drei Dezibel lauter. Nichts rührte sich.
"Denver." "Denver?" "Denver!" Nichts. "Denver!!" "DEnver." "DENver." Keine Reaktion. "DENVer." "DENVEr." "dENVER."
Noel lauschte. Nichts.
"DENVER?" "DENVER!" "DENVER?!"
War überhaupt noch in seinem Bett?
"denver?!" "dEnVeR!" "DENVER!!!"
"Was?"
Noel atmete halb erleichtert, halb verärgert aus.
"Wie laut hörst du Musik, dass du mich nicht gehört hast?"
"Ich habe dich gehört. Alle sechzehn Mal."
"Und wieso hast du nicht geantwortet?"
"Na ja, wenn jemand weniger als sechzehn Mal meinen Namen sagt, wie wichtig kann es dann sein?"
Darauf wusste Noel auch keine Antwort, deshalb erzählte er Denver einfach von seinem Problem: "Ich hab Hunger. Aber weder Dosenöffner noch Löffel."
"Das Dosengulasch entwickelt sich wirklich zum Problem."
"Was machen wir jetzt?", fragte Noel.
"Wir leihen uns einen aus. Audrey hat sicher einen. Sie ist doch immer auf alles vorbereitet."
"Audrey würde einen Apokalypse überleben. Ich bin sicher, sie braucht ihren Dosenöffner und Löffel selbst. Abgesehen davon halte ich sie nach sechs Uhr abends nicht aus."
"Aber es ist immer nach sechs abends", erwiderte Denver nachdenklich.
"Ich weiß, Denver. Könntest du dich bitte konzentrieren?"
"In der Küche haben sie bestimmt beides."
Denver schwang die Beine aus dem Bett. "Zeit für einen kleinen Einbruch. Ich sag's dir, Kumpel, so beginnt unsere Karriere als Kleinkriminelle."
"Aber Denver, ich bin 1.80."
"Bist du nicht. Jetzt bist du ein Kleinkrimineller."
Noch nie hatte er Denver so aufgeregt erlebt. Vielleicht war Kleinkrimineller wirklich ein Beruf, in dem er sich ausleben konnte.
"In Ordnung, lass uns gehen."Es war ein schönes Gefühl, wieder mal frische Luft zu erwischen. Oder überhaupt Luft.
Denver schloss schnell die Tür, damit der Rauch nicht nach draußen drang und dortigen Rauchmelder auslöste.
Dann schlich er auf Zehenspitzen los. Noel folgte ihm in normaler Gangart, das Dosengulasch fest in der Hand.
Sie passierten gerade Audreys Zimmer, als die Tür aufflog und Noel beinahe erschlug. Audrey stand mit ihrem Baseballschläger über der Schulter da, als hätte sie auf sie gewartet.
"Was macht ihr da?"
"Shhh, leise. Du ruinierst unsere Karriere als Kleinkriminelle."
Audrey sah verwirrt zu Noel. "Aber Noel ist doch 1.80?"
"Ist er nicht. Er ist 1.65."
"Aber du bist doch auch mindestens 1.75."
"Nein, bin ich nicht. Sieht man doch."
Audrey konnte Denver hier nicht mehr widersprechen.
"Also, was macht ihr jetzt wirklich hier?"
"Wir leihen uns etwas aus der Küche", erklärte Noel.
"Und was ist daran kleinkriminell?"
"Keine Ahnung. Frag das System."
Audrey nickte auf eine Art, als hätte sie das gerade zu ihrer Bucket List hinzugefügt. "Ich komme mit und pass auf euch kleine Leute auf.""Okay, wie kommen wir hier jetzt rein?"
Ratlos standen sie vor der verschlossenen Küchentür. Denver bückte sich und holte eine Haarnadel aus seinen Boots.
"Lasst mich mal ran."
Niemand widersprach.
Er stand 235 Sekunden bewegungslos vor der Tür, bis sie plötzlich aufsprang.
"Was hast du gemacht?", fragte Audrey sichtlich verwirrt.
Denver runzelte die Stirn über ihr Unverständnis. "Ich habe das Schloss geknackt."
Er steckte sich die unbenutzte Haarnadel in die Haare, wo sie sofort verschwand.
Noel beschloss, es nicht mehr zu hinterfragen und betrat die Küche.
Sie sahen sich nach den gewünschten Utensilien um.
"Wie sieht so ein Dosenöffner eigentlich aus?", wollte Audrey wissen.
"Wie ein Dosenöffner eben", sagte Noel voller Überzeugung.
"Verstehe. Ich glaub, ich hab ihn." Sie deutete auf ein Gerät, dass man durch die halboffene Speisekammer sehen konnte.
"Bingo, das ist einer." Noel streckte den Arm aus und wollte das Ding vom obersten Regal nehmen.
"Stopp, Noel", rief Denver. "Du kommst da nicht hin, du bist zu klein."
"Ich mach das", sagte Audrey.
Noel legte den Dosenöffner, den er schon wenige Zentimeter angehoben hatte, zurück und ließ Audrey in die Kammer.
Audrey kletterte die ersten beiden Regalbretter hinauf, um an den Öffner zu kommen.
In der Zwischenzeit schlug Denver die Tür zu, holte eine Haarnadel aus seinen Boots und verschloss die Tür. Diesmal wirklich.
"Ich dachte, das dauert 235 Sekunden", sagte Noel.
Denver schüttelte den Kopf. "Nur das Öffnen", erwiderte er.
Audrey klopfte von innen gegen die Tür. "Jungs? Ich habe den Öffner."
"Kannst du damit auch Türen öffnen?"
Noel hob die Hand. "Ähm, Denver? Warum genau hast du das gemacht?"
"Um zu sehen, ob sie das auch vorbereitet war."
Denver drehte sich zur Tür. "Na, hast du das auch vorausgesehen?"
"Seite 17, Absatz 3. Aber nur weil ich es vorausgesehen habe, bin ich nicht zwingend darauf vorbereitet. Jetzt lass mich raus, Denver."
"Nein, du bist nicht klein genug, um Kleinkriminelle zu sein. Wir brauchen diese Art von Schwäche nicht. Eine Kette ist nur so stark wie ihr schwächstes Glied und das können wir uns nicht leisten!"
"Denver, lass die Scheiße! Davon abgesehen bin ich nur 1.60!"
"Aber du hast den Dosenöffner runtergeholt! Erklär mir das mal!"
"Denver, hör auf mit dem Unsinn."
Er ignorierte sie geflissentlich und durchsuchte die Bestecklade. "Hey, No, ich hab deinen Löffel gefunden."
Er holte einen Löffel aus der Lade, wo der Name Noel eingraviert war und warf ihn Noel zu. Dieser öffnete den Mund und fing ihn mit den Zähnen ein.
"Dnk, Dnvr."
"Hast du Spitze gemacht. Wo lernt man den sowas?"
"Davis Avenue 5, Oakland, Nebraska, USA, Nordamerkia, Erde, Sonnensystem", antwortete Noel.
"Ah, okay. Vielleicht schau ich da mal vorbei."
Audreys Stimme drang gedämpft aus der Speisekammer: "Ich wusste gar nicht, dass du aus Oakland bist. Meine Tante Susan wohnt da."
"Ich bin nicht aus Oakland. Ich bin aus Tucson in Arizona."
"Cool, da wohnt meine Tante Meghan."
Denver hob die Augenbrauen. "Wie viele Tanten hast du?" "Neunundvierzig, wieso?"
"Hat mich interessiert."
"Könntet ihr mich jetzt bitte rauslassen? Ihr braucht doch den Dosenöffner!" meldete sich Audrey.
Denver drehte sich zur Küchenzeile. "Sieh mal, Noel, hier ist eine Mikrowelle."
"Echt? Cool, dann kann ich sogar mein Gulasch aufwärmen."
Er öffnete das Türchen, stopfte die Dose hinein und startete den Vorgang. Sofort blitzte es in der Mikrowelle und irgendwo im Haus flog ein Schalter und mit ihm die Sicherungen. Auf einmal standen die Jungs im Dunkeln.
"Tja", sagte Denver irgendwo in der Finsternis. "Lass uns gehen."

DU LIEST GERADE
Noel
فكاهةEine Geschichte über Noel, Denver und Audrey. Außerdem über ein oder zwei Tenniscamps, kleinere Verbrechen und mehr Zigaretten, als man zählen kann. Haltet euch fest, seid auf Überraschungen gefasst und vor allem: lasst euch nicht irritieren. Wir...