Noel

4

Später am Abend lag Noel in seinem Bett, den Geruch von Denvers Zigaretten in der Nase.
Eigentlich hatte er das Licht ausmachen wollen, aber durch den ganzen Rauch im Zimmer störte es ihn gar nicht mehr. Und es gab ein gut gedimmtes Leselicht ab.
"Weißt du, Noel, es ist echt scheiße. Ich wette, meine Eltern haben mich nur hergeschickt, um mich los zu sein. Als würde mich hier irgendjemand haben wollen."
Denver unterbrach, um einen tiefen Zug zu nehmen. "Aber hey, das Leben ist hier so scheiße wie sonst auch. Also, was soll ich anderes machen als hier zu sitzen und auf den Tod zu warten."
Noel konnte hören, wie Denver sich zu Fenster wandte, um den Stummel loszuwerden. Im Nebel leuchtete das Feuerzeug auf, als er sich eine neue anzündete.
"Willst du wirklich sterben?", fragte Noel.
"Na klar. Wieso, du etwa nicht?"
Noel schwieg, aber Denver wartete auch gar nicht auf eine Antwort.
Nach einer Weile konnte Noel leise die Musik aus den Kopfhörern seines Zimmergenossen hören. Nach einigem Zuhören erkannte Welcome to the Black Parade von My Chemical Romance wieder.
Die leise Rockmusik ließ ihn schließlich einschlafen.

Noel wusste nicht, ob es draußen schon dämmerte oder nicht, da der Rauch immer noch nicht abgezogen war.
Doch es war auch nicht das Licht, das ihn weckte, sondern der harte Schlag ins Gesicht. Sofort begann seine Nase wieder zu bluten. Für einen kurzen Moment konnte er noch P.A. erkennen, wie dieser vom Stockbett stieg und durch die Tür verschwand.
Er ließ sie offen stehen, wodurch zumindest der Rauch etwas abziehen konnte. Mit schmerzenden Gliedern wankte Noel ins Badezimmer, um sich das Blut abzuwischen.
Als er die Tür öffnete, begann sofort der dortige Rauchmelder ohrenbetäubend zu piepsen. Noels Brustkorb begann wieder zu schmerzen, weshalb er das Geräusch ignorierte und sich auf die geschlossene Toilette sinken ließ.
In diesem Moment tauchte Audreys Gestalt im vernebelten Türrahmen auf, in ihrer Hand zeichnete sich ein Baseballschläger ab. Mit einem einzigen kräftigen Hieb schlug sie den Rauchmelder von der Decke.
Die Einzelteile regneten auf Noel herab und verteilten sich auf dem Teppich.
"Ihr konntet also nicht einmal so weit denken, den Rauchmelder im Bad auch auszuschalten? Das ist wieder mal typisch!"
Den letzten Satz rief sie in Denvers Richtung. Der reagierte jedoch nur mit einem lauten Schnarchen. Audrey seufzte theatralisch und legte sich den Baseballschläger über die Schulter. Noel betrachtete den Schläger skeptisch.
"Warum hast du einen Baseballschläger dabei? Wir sind auf einem Tenniscamp."
"Damit treffe ich die Gesichter meiner Feinde besser", erwiderte Audrey ernst.
Noel suchte nach dem Sarkasmus, aber es war keiner zu finden. Also hielt er den Mund, um nicht auch zu dieser Kategorie gezählt zu werden. 

Audrey marschierte aus dem Bad und stupste dem schlafenden Denver in die Rippen. "Aufstehen, du fauler Sack."
 "Ich bin nicht fett", murmelte Denver im Halbschlaf.
Audrey fuhr mit ihrem Schläger unter seine Decke und zog sie weg. Zu Noels Überraschung trug sein Zimmergenosse immer noch Skinny Jeans und Hoodie vom Vortag.
"Mann, Audrey, lass mich meinen temporären Tod genießen."
"Ich hab keine Ahnung, was du meinst. Aber wir kommen zu spät!"
"Es ist fucking fünf Uhr morgens!"
"Denver, du hast nicht mal eine Uhr!"
"Ich kann an der Dichte des Rauchs erkennen!"
Denver setzte sich ein Stück auf und streckte die Hand in Richtung Noel aus. "Sei so gut, Kumpel, und bring deinem leider erst halbtoten Freund seinen Koffer rüber!"
Noel ergriff das schwarz lackierte Ungetüm und wuchtete es zu Denver hinüber.
"Wofür brauchst du so einen großen Koffer? So lange sind wird nicht mal hier", warf Audrey ein.
Denver ignorierte sie und öffnete den Deckel. Die eine Hälfte war vollgestopft mit schwarzen Klamotten, die anderen mit ungeöffneten Zigarettenpackungen.
Audrey sagte nichts mehr.
Er griff nach einer Schachtel, öffnete sie und begann wieder zu rauchen.
"Du hast jetzt keine Zeit zum Rauchen! Wir kommen zu spät!"
"Es ist fünf. Uhr. Morgens. Das Frühstück beginnt um halb acht."
"Ja, aber, angenommen wir werden auf dem Weg zum Speisesaal überfallen. Oder wir vergessen etwas und müssen zurück! Oder jemand fällt hin und bricht sich das Bein!"
Sie holte ein zerlesenes Notizbuch aus der hinteren Hosentasche und schlug es auf. Auf dem Einband stand der handgeschriebene Titel: Things that can and will go wrong (Tenniscamp Edition) #1. "
Aber wenn man sich das Bein bricht, muss man nicht mehr Tennis spielen und ergo auch nicht mehr pünktlich sein", warf Noel ein. 
Audrey starrte in mehrere Sekunden blank an, bevor aus der anderen Hosentasche einen Radiergummi zog und begann, wild in dem Buch herumzuradieren.
"Steht da drin auch, was passiert wenn ich mich vorm Frühstück umbringe?", fragte Denver gelangweilt.
 Audrey warf ihm das Buch in  den Schoß. "Jep. Seite 231, Absatz 3c."
Es überraschte Noel, dass das Buch überhaupt so viele Seiten hatte.
Denver starrte das Buch einige Sekunden lang an, dann drückte er seine Zigarette auf der besagten Seite aus.
"Bullshit. Ich würde mich niemals auf Bahngleise legen. Viel zu weit weg."
"Der Rest steht auf der nächsten Seiten. Und das mit der Zigarette hab ich übrigendes vorhergesehen. Das steht auf Seite 357. Absatz 5a, falls du's genau wissen willst."
Denver schnippte seinen Zigarettenstummel aus dem Fenster. "Du hast keine Hobbys, Controlfreak."
Audrey blickte ihn verwirrt an. "Aber das sind meine Hobbys."
Denver ging nicht darauf ein und legte sich wieder ins Bett.