Ryonin

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Jiran versuchte alles auszublenden und scheiterte jedes Mal. Diesmal machten ihm nicht nur Schuldgefühle bezüglich Dasuna zu schaffen, er musste sich auch ständig daran erinnern, dass er morgen seine eigene Stadt, seinen Bruder und einige andere angreifen würde, die er gut kannte. Zwar waren ihm viele auch verhasst gewesen, doch keiner hatte ihm so schwer zugesetzt, dass er ihn dafür töten könnte. Vielleicht hatte er wirklich ein weiches Herz, aber selbst Litan würde er lieber gefangen nehmen und ihm einen gewaltigen Schreck einjagen, anstatt ihn zu töten. Ilena hätte es ihm eigentlich leichter machen sollen. 

Sie lag im Nachthemd neben ihm, den Kopf an seine Schulter gelehnt. Ihre Weste und ihre Schuhe hatte sie ausgezogen, die lagen nun bei der einzigen kleinen Kerze, die ein flackerndes Licht auf einen nur ganz kleinen Teil des großen Zeltes warf. Sie konnte im Spätherbst auch nicht mehr in so leichter Kleidung draußen umherwandern. Ihre Füße hatte sie ihn seinen Decken vergraben.  

Jiran setzte sich mit einem Ruck wieder gerade hin, denn er war immer weiter zusammengesunken. Ilenas Kopf ruckte ebenfalls hoch. Sie sah zu ihm hoch und er zuckte nur die Schultern.  

„Musste mich aufsetzen, ist sonst so unbe ..." 

Dann hatte sie schon ihre Lippen auf seine gedrückt. Nicht fest, nur ganz sanft. Jiran vergaß sofort für einen kleinen Moment, dass er seinen Satz nicht ausgesprochen hatte. Dann waren ihre weichen Lippen auch schon wieder weg und Jiran sehnte sie sich fast augenblicklich wieder herbei. Er lächelte noch kurz, dann kamen die Sorgen und Ängste zurück. 

Er hatte schon überlegt, ob er es nicht einfach beenden sollte. Schließlich hatte er niemals richtig Ja gesagt. Er hatte nur auch nichts dagegen gesagt, weil er gedacht hatte, er würde genauso empfinden, wie sie. Und irgendwann war das auch mal so gewesen, das konnte er nicht leugnen. Doch inzwischen war viel passiert und er war sich über seine Gefühle kein bisschen mehr sicher. 

„Morgen müssen wir gegen unsere Familien kämpfen.", sagte Ilena bedauernd und leise. 

Jiran stimmte zu und sah auf ihre blonden Haare, die auf einer Seite fast schwarz waren, auf der anderen, wo das Licht hin schien regelrecht leuchteten. Er seufzte leise. 

Mit traurigem Gesicht sah Ilena auf. Ihre Augen zeigten echtes Mitleid, echte Trauer. Und er wusste, dass sie ebenso fühlte. Auch ihre Familie war in der Stadt. Er wollte nicht in diese Augen sehen, sie erinnerten ihn an Dinge, von denen er nichts wissen wollte.  

„Ich glaube, wir sollten bald schlafen gehen. Sonst sind wir morgen zu müde." Schlechte Ausrede, schalt sich Jiran sofort. Doch Ilena nahm sie ernst auf und nickte.  

Sie befreite ihre Füße von den vielen Decken und stemmte sich von Jirans Lager hoch. Sie schnappte sich ihre Weste und die Schuhe. Sie zog die Schuhe an, doch Jiran betrachtete nur ihren Körper. Sie war schön. Ohne Frage. Und sie liebte ihn. Und er liebte sie? Er sah sie noch einmal an, schüttelte kaum merklich den Kopf. Sie küssten sich und dann war sie verschwunden, fröhlich lächelnd.

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Das Lager war eine wirkliche Katastrophe. Es bestand aus gut ersichtlichen Ballungspunken und dazwischen war oft Platz von mehr als einer Zeltbreite. Nach einigen Wochen zusammen, hatten sich die Nachtelfenclans noch immer nicht aneinander gewöhnt. Vor allem stellte sich allmählich heraus, wer die wirklich verhassten Clans waren und wen jeder mochte. So erfreute sich Gideon großer Beliebtheit, was nicht auch zuletzt daran lag, dass er von einem stillen etwas grimmigen Typen allmählich zu einem richtig sympathischen und vor allem gerechten Anführer entwickelt hat. Jiran genoss es inzwischen, dass er sich oft an seiner Seite aufhielt. Er war nett, stellte seine eigenen Interessen zurück und war vor allem loyal. Das half Jiran ungemein, denn so waren vieler seiner Freunde, ebenso loyal wie Gideon selbst. 

Der Blutschrein [4] - KriegWo Geschichten leben. Entdecke jetzt