I. Alles ist verschoben

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Wenn die Wahrheit verliert, hat nicht die Lüge gewonnen, sondern der, der sie verbreitet.

- Keimel Markus

Also, habe ich gewonnen?

Manchmal möchte ich weinen, mit meinen Fäusten gegen eine Wand schlagen, obwohl ich mir damit nur selbst wehtun würde.

Doch ist es vielleicht das, was ich brauche?
Schmerzen, um mich selbst zu spüren, meine Emotionen zu spüren - zu wissen, dass ich am Leben bin? Atme und mein Herz stetig weiter in meiner Brust schlägt?

Ich weiß nicht, was ich machen soll. In meinem Kopf herrscht pure Leere, ich bin zu einer Hülle geworden. Aber das ist nichts Neues, denn wir leben in einer ungerechten Welt: Viele Menschen sterben jeden Tag, gar Sekunde. Sterben, weil sie das Pech hatten, an einem anderen Ort geboren worden zu sein, als in dieser ach so tollen Ersten Welt.
Ungerechtigkeit, die durch Zufall bestimmt worden ist. Zufälle, wie die auftretenden Augenzahlen eines Würfels.

Viele haben das Eine, was sie erfüllt, und doch sind sie nicht zufrieden. Zufrieden mit sich selbst. Zufrieden mit der Welt und ihrem Leben.
Ich hab' einfach Angst, so viel Angst, dass ich eine von denen bin, welche nie glücklich werden. Ja, ich fühle Glück. Mein Leben ist toll, an nichts mangelt es mir, was mir körperlich schaden könnte. Ich hatte Glück - der Würfel ist bei mir auf der richtigen Augenzahl gelandet.
Von Außen bin ich gesund. Meine Hülle, nur der Körper, doch ohne Geist, lässt die anderen glauben, dass ich eine überaus ausgelassene Person bin und mir nie etwas Böses passieren kann. Es würde doch nur von mir abprallen, denken sie alle, aber sie denken falsch!
So, so falsch...
Trauen, ihnen die Wahrheit zu sagen, ihnen zu erläutern, dass meine Mauern, die mich von der Außenwelt schützen sollten, schon längst gefallen sind und ich mir nur mehr aus den Trümmern einen Haufen machen konnte, tue ich nicht.
Die Trümmer liegen vor mir und mein Ich möchte, dass es nicht vorbei ist. Entsetzlich halte ich daran fest, aber es ist schon längst zu spät. Viel, viel zu spät, um mich zu retten.

Doch, obwohl ich innerlich nicht mehr weiß, wer ich bin, lebt meine Hülle weiter. Sie möchte das Trugbild aufrechterhalten - ein Trugbild der Zeit, weil die Zeit es irgendwann zunichtemachen wird. Alles hängt nur mehr davon ab, wie gut meine Hülle in der Schauspielerei gelehrt ist, denn ohne diese würde ich enttarnt werden. Enttarnt als ein Zombie meiner Selbst.
Jeder würde entsetzt sein. Entsetzt darüber, wie mein Geheimnis so lange unentdeckt bleiben konnte. Vor ihnen wandeln konnte, ohne, dass sie es bemerkt haben.

Aber derweil halten meine Lügen alles aufrecht. Lügen, gesponnen, so dicht, dass sie zu einer eigenen Wahrheit geworden sind. Lügen, wie wir sie doch täglich um uns haben. Menschen belügen sich selbst und andere und wozu? Zum Schutz oder weil die Wahrheit wehtun, einen Aufstand anzetteln würde? Überall wandeln sie, diese Lügen. In unseren Geliebten und überall anders. Sie sind undurchdringbar und kann man es diesen Menschen verübeln, es mir selbst verübeln? Überall diese Lügen, dann machen meine keinen Unterschied mehr.

Meine provisorische Mauer wackelt zwar und starker Wind, getragen von der Zeit, prallt dagegen, erschüttert das Gestell. Mein Inneres schreit dabei und möchte, dass es aufhört, denn es will nicht gesehen werden.
Es ist noch nicht bereit dazu und deswegen fallen wir in der Realität nicht auf.
Wir sind ein Schatten, eine Lüge! Bis zum Ende, wo alles dann zur grausamen Realität wird...

***

In diesem Kapitel ging es für mich um eine Zeit in meinem Leben, in der ich nicht gewusst habe, wer ich überhaupt bin. Ich hatte alles: Freunde, eine gute Familie und war erfolgreich in der Schule. Etwas hat mir aber gefehlt, und dann habe ich begonnen, an mir selbst zu zweifeln. Wie im Text: Ich hab' mich wie eine Hülle gefühlt.
Ebenfalls habe ich Freunde, die zu dieser Zeit selbst Probleme mit sich gehabt hatten, ihrem Umfeld vorgespielt haben, dass es ihnen gut geht, obwohl sie Hilfe gebraucht hätten.
Das Kapitel behandelt also meine Sicht der Dinge, doch auch habe ich mir vorgestellt, wie sich meine Freunde gefüllt haben könnten.

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