Jede Sekunde zählt

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"Scheiße." Geralt traf den Nagel damit meiner Meinung nach auf den Kopf. Regis und Syanna könnten jeden Moment hier aufkreuzen, Krul direkt auf ihren Fersen und wir hatten keinen Plan B. "Nein", ächzte ich und schüttelte den Kristall, der mir natürlich nicht antwortete und auch nicht anfing, zu strahlen, egal wie sehr ich vor der Nase des Einhorns damit herumwedelte. "Gib's auf", knurrte der Hexer kurz angebunden in meine Richtung. "Das Einhorn ist nicht echt." Bevor ich etwas erwidern konnte, griff Geralt unvermittelt nach dem Kristall, doch als er merkte, dass ich keine Anstalten machte, die Silberkette loszulassen, an der das Kleinod baumelte, umfasst er einfach meine Hand und zog diese hoch, damit er den Kristall näher in Augenschein nehmen konnte. Den fast etwas höhnischen Blick, den ich für mein Geklammer erntete, ignorierte ich gekonnt. Dieser Kristall gehörte, soweit es mich betraf, mir und womöglich war er meine Lebensversicherung. Nicht nur, dass ich ihn hatte, seit ich hier angekommen war, er war neben meinem Wissen, über das ich blöderweise nicht sprechen konnte, mein einziger Beitrag zu dieser sonst recht kampfkräftigen Gruppe. Die Herzogin nahm ich davon aus, sie war der Köder.

Schweigend musterte Geralt den Kristall, dann griff er mit der freien Hand nach seinem Hexermedaillon, das, wie ich erst jetzt bemerkte, leicht vibrierte. Der Kristall war eindeutig magisch, aber das war ja nicht unbedingt eine neue Erkenntnis. "So kommen wir nicht weiter!", empörte sich Anna Henrietta zornig. "Diese abscheuliche Kreatur kann jeden Moment hier auftauchen. Also werden wir ihr erhobenen Hauptes entgegentreten und kämpfen!", entschied die Herzogin mit fester Stimme. Eines musste ich ihr lassen: Sie hatte Eier. Selbst jetzt, wo ich einfach nur noch zwischen Angst und Hoffnungslosigkeit schwankte, blieb sie unerbittlich und entschlossen. "Und sterben", fügte ich missmutig ihrer Ansprache hinzu und erntete damit ein verhaltenes Glucksen seitens Geralt, der dabei jedoch kaum eine Miene verzog. "Gib mir das Buch mal", meinte er dann. Skeptisch sah ich zu ihm auf und legte die Silberkette mit dem Kristall eilig wieder um, als er meine Hand aus seinem Griff entließ. "Was hast du denn damit vor?", wollte ich wissen, zögerte aber nicht, ihm das Zauberbuch hinzuhalten. Viel mehr konnte ich damit in der Eile eh nicht anfangen. Die beiden Zaubersprüche hatte ich hoffentlich im Kopf, auch wenn ich daran zweifelte, dass das irgendetwas ändern würde. Es war ja nicht so, als werfe man einfach mit einer Zauberformel um sich und - Tada! - alles erledigte sich einfach so. Kinderspiel! Schön wärs.

"Ich bin absolut sicher", mischte sich Theodor ungefragt ein, während Geralt noch immer das Buch durchblätterte, als suche er nach etwas, "dass unser der Anhänger den Weg zum Sieg weisen wird." Anna Henrietta rollte mit den Augen. Sie war offensichtlich nicht überzeugt und wenn ich ehrlich war, konnte ich den Enthusiasmus Theodors auch nicht ganz teilen. Wir hatten keine Ahnung, was wir tun sollten und Krul könnte jede Sekunde hier aufschlagen. Regis und Syanna hatten zwar versprochen, uns etwas Zeit zu lassen, doch sie ahnten ja nicht, wie übel unser Plan ins Wasser gefallen war. Zumindest, brummte eine sarkastische Stimme in meinem Hinterkopf, brauchte ich mir keine Sorgen mehr darum machen, was Dettlaff mit der Stadt anstellen würde. Krul käme ihm zuvor und erleben würde ich das sowieso nicht mehr. Einfach fucking fantastisch. Womit hatte ich das nur verdient? Gefrustet fuhr ich mir durch das klamme Haar und richtete meinen Ärger auf Theodor, auch wenn der eigentlich nichts dafür konnte. Zumindest nicht wirklich. "Und wie? Er reagiert nicht. Wir haben hier kein Wesen mit reinem Herzen, das obendrein noch magisch begabt ist. Ist ja nicht so, als fielen sowas einfach vom Himmel!" Irgendwie hatte ich fast ein wenig gehofft, das Schicksal wolle mich trollen und würde mir die Lösung jetzt eben doch einfach vom Himmel vor die Füße klatschen lassen, doch natürlich passierte das nicht. Wäre ja auch zu einfach gewesen.

Das Geräusch von reißendem Papier riss mich aus meinen Gedanken. Fassungslos starrte ich Geralt an, der einfach so ein paar Seiten aus dem Zauberbuch herausgerissen hatte. "Sag mal, hackts bei dir?!", fuhr ich ihn gleichermaßen verdattert wie wütend an. Was zur Hölle war eigentlich mit diesem Kerl? Welcher vernunftbegabte Mensch behandelte - Pardon: misshandelte - ein Buch derart? Der Hexer jedoch ignorierte mich völlig und hielt eine Seite mit angestrengter Miene in Richtung Sonne. Wütend schnappte ich nach Luft. "Geralt!", fauchte ich ihn an, um seine Aufmerksamkeit auf mich zu lenken, doch wieder vergeblich. Zumindest dachte ich das zuerst, dann ergriff der Weiße Wolf das Wort. "Dieser ganze Kram von einem reinen Herzen. Alles Unfug, wenn du mich fragst. So etwas habe ich schon dutzende Male gehört, doch es war nie etwas dran. Nur romantischer Unfug." Entnervt ächzte ich. "Schön und gut, aber warum zur Hölle sollte es da helfen, MEIN Buch zu zerreißen?", verlangte ich zu wissen. Einige Sekunden verstrichen, ehe Geralt genervt zurückgab: "Manchmal verstecken sich geheime Nachrichten in magischen Büchern. Sie werden nur durch bestimmtes Licht sichtbar." Ohne ein weiteres Wort der Erklärung drückte er mir das Buch sowie die herausgerissenen Seiten in die Hand. "Hier allerdings nicht." Ich brummte. "Und das hättest du nicht testen können, ohne mein Buch zu beschädigen?", zischte ich verärgert und drückte das Buch an mich, als wäre es mein heimgekehrtes Kind, um dessen Sicherheit ich nun fürchtete. Ganz falsch war dieser Vergleich nicht.

Blood and Whine (Witcher III)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt