Der Hexer

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Planlos raste ich durch den dunklen Wald, blieb dabei immer wieder an Ästen und Zweigen hängen und verfluchte den Tag und den Greifen über mir im Besonderen, denn der war längst auf mich aufmerksam geworden. Wie hätte es auch anders sein können? Als wäre ich so ein widerlich stinkender Kreuzdorn! So hieß, meinte ich, die Pflanze, die in Flüssen wuchs, stank als gäbe es kein Morgen und als Greifenköder fungierte. Eine der Lektionen Vesemirs, die in meinem Kopf hängen geblieben waren. Nur, dass mir das überhaupt nicht weiterhalf, denn ich wollte ja keinen Greif anlocken, sondern vielmehr einem entkommen. Hinter mir ertönte erneut lautstark und für meinen Geschmack viel zu nahe das Kreischen des Greifen, als habe dieser meinen Gedanken gehört und plane, mir aufzuzeigen, dass der Gedanke, ich könnte vor ihm davonlaufen, ziemlich absurd war. Mit seinen mächtigen Schwingen war das Biest zweifellos wirklich viel schneller. Mein einziger Vorteil war, dass die Äste der Baumkronen den Greifen daran hinderten, zwischen den Stämmen durchzufliegen. Sonst hätte er mich wohl auch schon längst eingeholt. Aber auch so war das mystische Wesen mir näher, als mir lieb war. Nur der Gedanke an die Klauen der Kreatur genügte, um mich anzuspornen, das Brennen in meiner Brust ebenso zu ignorieren wie meinen rasselnden Atem.
Japsend taumelte ich halb vorwärts, halb rückwärts weiter und wie es der Zufall so wollte, fand ich dabei die eine lose Wurzel im ganzen Umkreis, um an eben dieser Wurzel hängen zu bleiben und ungebremst auf meinen linken Arm zu fallen. Glühend zog sich der Schmerz meinen Ellenbogen hinauf bis in meine Schulter. Autsch! Das würde auch morgen noch kräftig wehtun, vorausgesetzt natürlich ich überlebte bis dahin, denn direkt neben mir war der Greif gelandet. Schrill durchdrang sein Kreischen den Wald und ging mir durch Mark und Bein. Ich wollte schreien, doch jeder Laut blieb mir im Halse stecken, als das Biest mich mit seinem Blick fixierte. Wäre es vernunftbegabt, hätte ich vielleicht darauf hoffen können, mich irgendwie aus meiner misslichen Lage herauszureden, doch die nach mir schlagende Klaue verriet klar, dass ich mir die Mühe auf jeden Fall sparen konnte. Heiße Tränen schossen mir in die Augen. Es fühlte sich an, als wäre die Zeit plötzlich träge geworden, so viel ging mir durch den Sinn, während ich mir der Endgültigkeit meiner Lage bewusst wurde. Alles außer den Greifen hatte ich sowieso längst ausgeblendet. Womit hatte ich das nur verdient? Warum musste ich so jung sterben! Ich hatte noch so viele Pläne! Ich wollte noch so gerne die neue Witcher-Serie von Netflix schauen, die im nächsten Jahr erscheinen sollte, ich wollte so gerne noch Tanz der Vampire sehen, Thomas Borchert live hören! Doch jetzt würde das Letzte, das ich sah und hörte, das Mistvieh sein, das sich auf mit gespreizten Schwingen auf mich stürzte. Instinktiv hob ich die Arme schützend vor mein Gesicht. Dass ich am ganzen Leib schlotterte und die Hände zu Fäusten geballt hatte, bemerkte ich nicht einmal mehr. Mein Ende war nah. Der Greif würde mich töten und es gab nichts, was ich dagegen tun konnte.
Der erwartete Schmerz kam nicht. Stattdessen erfüllte ein strahlend grelles, bläuliches Licht den Wald, blendete mich und den Greifen gleichermaßen, sodass ich die Augen zukneifen musste, ohne überhaupt zu ahnen, woher dieses Licht überhaupt kam, wenn ich auch insgeheim zuerst mein Handy im Verdacht hatte. Ansonsten trug ich ja nichts bei mir, das hätte leuchten können, auch wenn mich dieses Licht eher an das Fernlicht eines Autos erinnerte. Selbst durch die geschlossenen Lider drang noch Helligkeit, sodass weiße Blitze über mein Sichtfeld zuckten. Erst, als ich eine Weile lang keine Krallen in meinen Armen spürte und Stille mich einhüllte, öffnete ich blinzelnd die Augen. Das Lich verebbte gerade und zu meiner Überraschung trug ich seine Quelle um den Hals. Ein blauer Stein mit silberner Fassung, welcher an einem dunklen Lederband hing. Doch noch ehe mich darüber wundern konnte, woher dieser Anhänger denn kam, den ich nie zuvor gesehen hatte, fiel mir etwas viel Bedeutenderes auf. Ich lebte. Der Greif hatte mich nicht angefallen und zerrissen. Mein Blick glitt suchend umher. Fassungslos rieb ich mir über die Augen. Der Greif, er war verschwunden! Einfach so! Allerdings war nicht nur der Greif fort, sondern auch der Wald. Statt kahlen Baumstämmen offenbarten sich mir weite Felder und Wiesen. Der Boden unter mir war nicht länger weich und mit buntem Laub bedeckt. Stattdessen spürte ich zahlreiche feste Grashalme unter meinen Fingern.
"Was zur Hölle...?", murmelte ich in mich hinein und ließ meinen Blick fassungslos über die Umgebung schweifen. Ich hatte nicht den blassesten Schimmer, wo ich hier war. Zugegeben, das war nicht so ungewöhnlich bei meinem miesen Orientierungssinn, aber ich könnte schwören, dass ich hier ganz bestimmt noch nie gewesen war. Allerdings hatte ich auch keine Ahnung, in welche Richtung der Greif mich verschleppt hatte. Allzu weit von zuhause konnte es eigentlich nicht sein. Unischer rappelte ich mich auf und versuchte, trotz der Dunkelheit, mehr zu erkennen. Vergeblich, auch wenn ich ein paar Gebäude ausmachen konnte, die sich als kleine Häuser entpuppten, als ich auf sie zuging. Eine Straße oder auch nur Straßenlaternen konnte ich jedoch nirgends entdecken. Selbst für ein Dorfkind wie mich war das hier quasi der Arsch der Welt. Das musste eine der Gegenden sein, in denen das Internet etwas war, das man nur vom Hörensagen kannte. W-LAN, was ist das? Ich selbst hatte ja einen guten Teil meiner Kindheit und Jugend in so einer Gegend zugebracht. Entsprechend war mir der Anblick von weiten Wiesen und Feldern auch bekannt, aber die Häuser hier muteten mehr als altbacken an. Himmel, die waren nicht nur im vorletzten Jahrhundert hängen geblieben, sondern im vorletzten Jahrtausend! Entschlossen, besser schnell herauszufinden, wo ich war und wie ich hier schnell wieder wegkam, stapfte ich einfach auf die Häusergruppe zu. Vielleicht hatte ich, überlegte ich, das Bewusstsein verloren oder träumte das alles nur. Inzwischen schien mir Letzteres schon am wahrscheinlichsten. Zumindest erschien mir das realistischer, als dass mich ein Greif in sein Nest verschleppt hatte, aus dem ich dann geflüchtet war, um schließlich von einem mysteriösen Kettenanhänger davor bewahrt zu werden, als Greifenbabymahlzeit zu enden. Prüfend griff ich nach der Kette und betrachtete den blauen Kristall, der daran hing. Eindeutig nicht meiner, so viel konnte ich sicher sagen. Dass ich ihn dennoch um den Hals trug, sprach für meine Traumtheorie. Mit einem Seufzen schob ich das Kleinod unter mein T-Shirt und kramte stattdessen nach meinem Handy, dessen Display mir die entmutigende Realität zeigte, mit der ich schon gerechnet hatte. Kein Netz. Aber bestimmt ließe man mich im Dorf irgendwo telefonieren. Wenn mir niemand half, ein Taxi zu bezahlen, könnte ich immer noch die Polizei anrufen und ihnen erklären, dass ich nicht wusste, was mir widerfahren war. Den Teil mit dem Greif würde ich dann auf jeden Fall auslassen, sonst landete ich höchstens in der Ausnüchterungszelle. Auch wenn das vermutlich immer noch besser wäre, als hier draußen, irgendwo im Nirgendwo, festzuhängen.

Blood and Whine (Witcher III)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt