Kapitel 60 - Der große Bruder

289 42 20
                                    

Die Schritte um ihn herum wurden immer lauter und hörten sich an wie starkes Meeresrauschen, nur rhythmischer, regelmäßiger. Genau wie Alecs Panik, denn er versuchte sich zwar einzureden, dass sie sich nur wegen dem Alarm so nah anhörten, aber da gab es noch immer einen Teil in ihm, der befürchtete, dass die Soldaten den Köder nicht geschluckt hatten, sondern ihn und die anderen suchten.

Er war so in Gedanken versunken, dass er beinahe an der Zelle vorbeigelaufen wäre, als ein schwarzer Haarschopf sein Blickfeld streifte. Als er abrupt stoppte, wäre er erneut beinahe über seine eigenen Füße gestolpert, aber das nahm er kaum wahr.

Stadessen war da das große Fragezeichen und der eiskalte Schauer, der erbarmungslos über seinen Rücken kroch, denn er kannte die Person in der weiten, grauen Gefängniskleidung mit den langen, ehemals welligen, schwarzen Haaren.

~Izzy?!~, stieß er geschockt hervor und riss vor Überraschung die Augen auf,~Was machst du denn hier?~

Isabelle Lightwood stemmte die Hände in die Hüften, funkelte ihn aber erleichtert an.

~Das gleiche könnte ich dich fragen, Bruderherz. Was hast du da eigentlich an?~

Das war seine Schwester. Kein verheultes Etwas, welches ihn anflehte, es zu befreien. Noch nicht einmal ein Schön, dich zu sehen oder Ich habe dich vermisst, hol mich hier raus!.

Stadessen fixierte sie sich gleich auf die Veränderung seines Kleidungsstils, welcher eher zweckbedingt geschehen war.
Innerhalb der massiven Steinmauern sammelte sich die Hitze, weshalb Alec im Rennen seinen Mantel aufgemacht hatte, sodass die dunkelgrüne, fast schwarze, Hose, die er von Ragnor geliehen hatte, und das royalblaue Hemd mit den silbernen Muster, welches er sich aus Magnus' Garderobe geborgt hatte, deutlich hervorstachen.

~Geliehen. Außerdem habe ich zuerst gefragt.~, antwortete er knapp, während er erneut die Zwillingsdolche zog und an dem Schloss herumwerkelte -einen Schlüssel hatte er während seines ganzen Weges nicht gefunden. Nicht, dass er ernsthaft danach gesucht hätte.

~Verdacht auf Piraterie, auch wenn ich glaube, dass sie mich eher verhaftet haben, weil ich deine Schwester bin~, vermutete sie, bevor sie hinzufügte,~Keine Sorge. Als die Soldaten kamen, habe ich Simon und Max zu Lydia geschickt. Sie sind außer Gefahr.~

Seine Schwester kannte ihn einfach zu gut, denn Alec hatte tatsächlich gerade damit begonnen, sich um Max zu sorgen. Deshalb war er froh, dass es zumindest ihm gut ging. Zwar vertraute er Simon nicht, aber er war besser als nichts und außerdem waren sie auf dem Weg zu Lydia.

Diese war eine gute Freundin der Lightwood-Geschwister, welche in einem Dorf direkt an der See lebte. Sie war freundlich und zuverlässig, wenn auch etwas ernst. Sie und Alec haben sich früher auf ein oder zwei Dates getroffen, aber es hatte einfach nicht gefunkt und so hatten sie beschlossen, einfach Freunde zu bleiben.

Endlich hörte er das erlösende Klick und er konnte die Tür aufstoßen. Sofort war er bei Isabelle und zog diese fest in seine Arme.

So stark sie auch war, sie hatte ihren Bruder schrecklich vermisst und war schier verrückt vor Trauer geworden, als sie erfuhr, dass er tot war. Allerdings brachte sie so etwas selten auch über die Lippen. Es ging einfach nicht.

Glücklicherweise verstanden sich die beiden Geschwister auch meist ohne Worte und so genossen sie den kurzen Moment des Friedens und der Freude, einander zu haben, bevor sich Alec langsam löste.

~Wir müssen weiter.~
~Zu Magnus oder?~, fragte Izzy grinsend.

Obwohl er hier vor seiner kleinen Schwester stand und ihm gerade vor ihr nichts peinlich sein müsste, lief er bei dieser Aussage knallrot an.

~Woher ...?~, stotterte er ertappt.
Die Schwarzhaarige grinste nur bis über beide Ohren und sagte leichthin~Wir haben uns kurz getroffen, als ich herkam. Er ist ziemlich charmant.~
~Ja, ... denke ich. Dann sollten wir wohl ...~, begann er, wurde aber von lauten Rufen unterbrochen.

Sie drangen nur gedämpft zu ihnen durch, wurden aber mit jeder Sekunde lauter. Genau wie die Schritte, die sich ihrem Korridor näherten. Leider kamen diese Geräusche gerade von da, wo auch Alec hergekommen war.

Isabelle stieß einen sehr undamenhaften Fluch aus und packte seinen Unterarm.
~Wir müssen hier weg!~
~Aber Magnus ...~
~Ich weiß, aber wir haben keine Zeit mehr!
Ich werde nicht zulassen, dass du dich geradewegs in den Tod stürzt! Ich will nicht, dass du uns wieder verlässt.~

Letzteres flüsterte sie nur noch und ihre dunklen Augen sahen ihn flehend an.

~Ich werde euch nicht verlassen. Nicht nochmal. Aber ich habe ihm versprochen, zurückzukommen.~

Das hatte er tatsächlich, auch wenn er es nicht laut ausgesprochen hatte. Aber er hatte sich selbst geschworen, zurückzukehren und Magnus zu befreien, denn es brachte ihn innerlich um, zu wissen, dass Magnus nur für ihn und sein Wohlbefinden seine Freiheit aufgab.

Er sollte doch derjenige sein, der andere schützte und nicht der, der beschützt wurde -es war wohl kaum erwähnenswert, dass die Wer-beschützt-wen-Frage noch lange nicht geklärt war.

Aber er konnte seine Schwester nicht schon wieder alleine lassen, immerhin machte er sich schon genug Vorwürfe, dass sie nur wegen ihm eingekerkert worden war.
Schlussendlich siegte der große Bruder in ihm und auch wenn es ihn innerlich umbrachte, nickte er.
~Dann komm. Die anderen werden nicht ewig warten.~

Mit diesen Worten schnappte er sich Izzys Hand und zog sie durch den Korridor zur nächsten Tür.
Gerade als er diese zuschlug, hörte er, wie sie auf der anderen Seite aufgerissen wurde.

Alecs Herz raste, während er mit seiner Schwester zur nächsten Wendeltreppe lief und diese beinahe hinunterstürzte.

Sie fanden sich in einem weiteren Flur wieder, der aber nicht halb so pompös eingerichtet war, wie die Gänge, durch die Alec bisher gesprintet war.
Auch lag ein Hauch von Kümmel in der Luft, der auf eine nahegelegene Küche hinwies. Da er diesen Geruch auch im Garten wahrgenommen hatte, keimte die leise Hoffnung in ihm auf, dass er sich nicht, wie befürchtet, verlaufen hatte.

Ohne sich abzusprechen folgten die Geschwister dem Geruch und fanden auch bald eine Tür, die in den Garten führte.

Sie flogen förmlich über den Kiesweg und hinter der nächsten Ecke konnte man sogar schon die anderen sehen, die unruhig hin und her sahen.

Lily erkannte sie als erstes und grinste leicht, auch wenn sie etwas verwirrt wirkte.
Prustend kam Alec vor ihnen zum Stehen, während Izzy etwas abseits stand.

~Wurde auch langsam Zeit. Wir müssen hier weg.~, beschloss Maia angespannt, während sie nervös zum Palast sah, aus dem man noch immer den Alarm hören konnten.

Manche Soldaten rannten noch auf den Mauern herum, aber das Spektakel spielte sich eigentlich auf die anderen Seite des Palastes ab.

~Wer ist das?~, fragte Mark verdutzt und deutete kurz auf Izzy.
~Meine Schwester. Ich erklär's später.~, winkte Alec keuchend ab und entging so, zumindest zeitweise, der Frage nach Magnus.

~Schön. Dann los!~, meinte Lily und schon machte sich Alec zum nächsten Sprint auf, der ihn erstmal davon abhielt, weiter an Magnus zu denken.

Die Fünf Kompasse Der Kali (Malec)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt