65. Kapitel

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Luna

Schwere, schwarze Stille umfing mich und verschluckte jedes Gefühl für Zeit oder Orientierung, das ich zuvor besessen hatte. Ich wusste nicht mehr genau, wie ich hier hin gekommen war, noch nicht einmal was ich überhaupt war, aber das erschien mir in diesem Augenblick auch vollkommen irrelevant.
Irgendwie hatte es etwas Angenehmes, diesen Druck zu spüren, den das undefinierbare Nichts auf mich auszuüben schien. Fast so, als würde mich jemand sanft aber bestimmt an den Platz schieben, der mir in der Welt gehörte und den ich eigentlich schon vor langer Zeit hätte einnehmen sollen. Warum hatte ich das nicht schon früher getan?
Anstatt einfach mal mein eigenes Ding durchzuziehen, meine Dunkelelfenkräfte zu erkunden und die Chance zu nutzen, mir selbst in der Welt meines Volkes eine Bedeutung zu verleihen, war ich in der menschlichen Dimension geblieben und hatte mich mit einer Hand voll blutrünstiger Vampire und einem Vampir-Dunkelelfen-Mischling abgegeben. Und was hatte ich davon gehabt? Nichts. Rational gesehen hatten mir die letzten Wochen - oder waren es Monate? - nichts gebracht.
Warum also hielt ich immer noch an diesen Personen fest? Die Antwort kannte ich: Emotionen. Liebe. Mitgefühl. Hoffnung auf echte Freundschaft. Es gab keine richtig passende Bezeichnung für das, was ich mir innerlich wünschte, und ob ich es gefunden hatte, das wusste ich auch nicht. Dennoch war mir klar, dass ich sie jetzt nicht verlassen konnte, auch nach all den Turbulenzen, die sie in meinem Leben verursacht hatten. Ich musste zurück zu ihnen und sehen, wie die Geschichte weiterging. Das hier konnte doch noch nicht alles sein...oder?
Ein schwacher Glanz in der Ferne erregte meine Aufmerksamkeit, und ich drehte meinen Körper in die entsprechende Richtung. Das ging erstaunlich leicht, und ich fragte mich für einen kurzen Moment, ob ich schwebte oder einfach auf einem unfassbar weichen Untergrund stand, der sich nicht erkennbar vom Rest meiner Umgebung abhob. Es blieb mir jedoch nicht die Zeit, das genauer zu untersuchen, denn der Schimmer wurde nun rasch immer heller und entwickelte sich zu einem strahlenden Licht, das mich jetzt, da es so nahe war und mich fast schon zu verschlucken drohte, beinahe blendete, sodass ich instinktiv die Augen zusammenkniff und meinen Blick abwandte.
Entgegen all meiner Erwartungen geschah jedoch nichts.
Kein Geräusch, keine Bewegung, nichts.
Verwirrt öffnete ich die Augen wieder und riskierte einen Blick nach vorn. Zu meiner Überraschung war es gar nicht so grell, wie ich zunächst angenommen hatte. Klar und deutlich sah ich das weiße Leuchten vor mir und fühlte die angenehme Wärme, die es ausstrahlte. Einige Zeit lang geschah nichts und ich wartete, in der endlosen Stille, die absurderweise wohlig und bedrohlich zugleich auf mich wirkte, mit einer Geduld, die ich zu Lebzeiten niemals besessen hatte.
Diese Zeiten waren vorüber, das wurde mir mit einem Mal klar; ich war tot, und das Seltsamste daran war, dass der Gedanke in mir keine Spur eines Gefühls auslöste. Keine Trauer oder Angst, auch keine Freude oder Erleichterung, noch nicht einmal Überwältigung oder irgendetwas dergleichen. Was war los mit mir?
Als hätte es meine Gedanken gehört, veränderte das Licht mit einem Mal seine Struktur. Es pulsierte und sendete eine Druckwelle aus, die mich ein Stück zurücktaumeln ließ, bevor es sich vor meinen Augen in eine spiegelartige Oberfläche verwandelte. Das darin zu sehende Bild zeigte eindeutig nicht mich, doch es war noch zu verschwommen um irgendetwas Vernünftiges erkennen zu können. Staunend näherte ich mich der glatten Scheibe und zuckte zusammen, als mit einem Mal Stimmen daraus hervordrangen. Wie in Trance legte ich meine Hand auf das Glas und versuchte, die gesprochenen Worte zu verstehen. Zuerst waren es nur Schreie, ein einziges Durcheinander wilder Rufe, in denen Angst, Verzweiflung, Schmerz und Unsicherheit mitklangen. Hin und wieder konnte ich ein wütendes Knurren ausmachen, doch das, was ich am dringendsten wissen wollte, konnte ich trotz aller Anstrengung nicht erkennen. Wem gehörten diese Stimmen? Ich spürte, dass sie mir vertraut waren, doch ich konnte sie nicht zuordnen. Ein beklemmendes Gefühl machte sich zum ersten Mal seit meiner Anwesenheit an diesem Ort in mir breit und ich drückte die Stirn gegen den Spiegel in dem Wunsch, dass das verdammte Bild endlich scharf werden wollte. Es dauerte noch einige Momente, die sich wie eine quälende Ewigkeit dahin zogen, bis die Sicht schließlich aufklarte und den Blick auf eine Waldlichtung freigab. Eine Waldlichtung, die mir nur allzu bekannt war.
Der Atem blieb mir weg, als ich die Personen erkannte, die da völlig hilflos über die freie Fläche stolperten und zu denen auch die Stimmen gehörten, die jetzt laut und deutlich zu vernehmen waren. Ich sah Grace, die als Einzige halbwegs gefasst zwischen den Gefallenen umherschritt und denen zu helfen versuchte, die noch am Leben waren. Ein stolzer Gedanke, wie mutig sie doch war, zog durch meinen Kopf, wurde aber sogleich von Sorge überschattet, als ich meinen Blick weiter wandern ließ, zu den Personen, auf die sich Dakarius' Tochter gerade zubewegte. Lewis kniete zusammengekrümmt am Boden, als hätte ihn jemand mit einer Energieladung am Bauch getroffen, doch seine Schreie machten offensichtlich, dass er es mehr mit emotionalem als mit physischem Schmerz zu tun hatte. Undeutlich konnte ich erkennen, dass er über eine Person gebeugt war. Eine Person mit roten Haaren...
Erschrocken schlug ich mir die Hand vor den Mund, als mir klar wurde, um wen der Vampir trauerte. Richtig, Jane...war sie etwa auch tot? Aber müsste sie dann nicht hier sein? Nein, das hätte ich bemerkt. Ich war ja auch keinen normalen Tod gestorben, nicht als Kriegerin auf dem Schlachtfeld. Nein, mich hatte eine Geisterseuche dahingerafft, langsam und armselig. Wütend biss ich mir auf die Lippe, als meine Augen die Stelle fanden, an der mein Körper hätte liegen müssen. Ganz schwach konnte ich meine eigenen Umrisse erkennen, durch die schon der Waldboden hindurchschimmerte. Ich erschauderte innerlich. Was für ein seltsames Gefühl! Dann bemerkte ich noch jemanden, jemand Wichtigen, der neben meiner verblassenden Silhouette kniete. Ethan! Mein Herz machte einen Freudensprung - er war am Leben! Und noch dazu fast unverletzt!
Doch... er weinte...
Etwa um mich? Tatsache, jetzt konnte ich es deutlich hören. Er schrie nicht so wie Lewis; er war ganz still, doch als das Bild näher an ihn herankam, konnte ich seine Augen sehen, deren Blick so viel Gefühl beinhaltete, wie ich es noch nie zuvor bei irgendjemandem gesehen hatte. Trauer, Verzweiflung und Schuldgefühle tobten darin, und er hatte seine Fingerkuppen tief in das Moos gegraben in dem krampfhaften Versuch, die Fassung zu bewahren.
Etwas Nasses benetzte mein Gesicht, und ich bemerkte erst jetzt, dass ich begonnen hatte zu weinen. Ich wollte zu ihm. Ich vermisste ihn so sehr. Wie gerne hätte ich den ganzen Mist rückgängig gemacht, der geschehen war, nachdem meine verdammte Lichtkugel Dakarius am Bauch getroffen hatte. Wie gerne wäre ich jetzt bei ihnen gewesen, hätte Ethan diese Qualen erspart und versucht, Jane mit meiner Magie zu heilen. Verdammt, ich konnte doch nicht so tatenlos zusehen! Ich musste zurück!
Verzweifelt presste ich mich gegen die Scheibe und schloss die Augen, während ich vor mich hin flüsterte: "Bitte, lass mich zurück!"
Ich wusste nicht einmal, mit wem ich redete, oder ob hier überhaupt jemand war, der mich hätte hören können, aber das war mir auch egal. Alles, was ich wollte, war, wieder vereint zu sein mit diesen Menschen, die ich so sehr liebte und die ich nicht einfach so zurücklassen konnte. Irgendwann würde ich sterben, ja, und dann würde ich mich auch damit abfinden. Aber doch noch nicht jetzt! Es gab noch so viel zu tun!
Mit einem Mal spürte ich, wie im Spiegel etwas pochte. Fragend blickte ich das Teil an und wischte mir erstaunt die Tränen beiseite, als ich sah, wie das Bild vor meinen Augen verschwamm. Ein Impuls ging jetzt von der Mitte des Glases aus und breitete sich wellenartig bis zum Rand aus, wo er in Form von weiteren Druckwellen in die Luft überschwappte. Angestrengt fixierte ich mit meinem Blick das Zentrum dieser Bewegung. Da war etwas im Spiegel...
Langsam streckte ich meine Hand nach vorne und zögerte nur kurz, bevor ich beherzt in das mehr oder weniger flüssige Glas hineingriff. Seine Kälte ließ mich erschaudern, doch meine Finger ertasteten einen kleinen Gegenstand, der allem Anschein nach auch aus Glas bestand. Mit einem Ruck zog ich ihn heraus und hielt das gute Stück hoch, um es eingehend zu betrachten. Es war ein winziges Fläschen, tatsächlich aus Glas, in dem ein paar Tropfen silbern schimmernder Flüssigkeit sachte umherschwappten. Am Flaschenhals war ein Etikett befestigt, das seltsam durchsichtig schimmerte, fast so, als wäre es selbst so geisterhaft, wie ich es wohl geworden war - oder hätte werden können, hätte ich nicht das getan, wozu ich mich als nächstes entschloss. Die Aufschrift des Etiketts lautete:
Zweite Chancen müssen genutzt werden
Zweite Chance? Bedeutete das etwa...? Ich wusste es nicht, doch es gab nur einen Weg es herauszufinden.
Entschlossen öffnete ich das filigrane Gefäß und tröpfelte mir dessen Inhalt in den Mund. Es schmeckte zunächst erstaunlich süß und wurde dann so bitter, dass sich alles in mir zusammenzog. Mit angewidertem Gesichtsausdruck stellte ich das kleine Ding auf dem Boden ab und biss die Zähne zusammen, um nicht vor Schmerz laut aufzuschreien. Meine Sicht verschwamm und mir wurde so schwindelig, dass ich mich nicht mehr auf den Beinen halten konnte. Benommen kippte ich vornüber und spürte nur noch halbherzig, wie ich in ein endloses schwarzes Nichts fiel, das mich wie ein Sog erfasste und davontrug. Dann verließ mich mein Bewusstsein und ich wurde fortgetrieben von diesem komischen Ort, von dem ich nichts als eine vage Erinnerung zurückbehalten sollte.

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⏰ Letzte Aktualisierung: Mar 23, 2020 ⏰

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