»Pass gut auf dich auf, Kind!«, sagt Mama mit einem mitleidig-besorgten Blick, als würde sie mich für unbestimmte Zeit in der Wildnis aussetzen. Dabei verdrückt sie sich mit Dad und Karla bloß für zehn Wochen nach Südamerika. Außerdem bin ich nun wirklich kein Kind mehr, schließlich hab ich mein frisch gedrucktes Abi seit gestern in der Tasche.
Als ich mich aus Mamas etwas verzweifelter Umarmung gelöst habe, wende ich mich an meinen Papa und meine Tante Karla: »Schickt mir ja viele schöne Fotos!«
Karla ist eigentlich nicht wirklich meine Tante, aber sie ist schon seit je her die beste Freundin meiner Mum und sie und ihr Sohn Noah sind seit ich denken kann wie eine zweite Familie für mich. Außerdem wohnen die beiden schon seit einigen Jahren bei uns — in unserem geräumigen Haus ist schließlich mehr als genug Platz für uns alle.
»Na hör mal, dein Vater ist Fotograf«, entgegnet mein Papa dann lachend, »da kauft er dir bestimmt keine Sechzig-Cent-Karte vom Souvenir Kiosk.«
Seine Zähne sind gerade und strahlend weiß und er sollte wohl eher vor der Kamera stehen, als hinter ihr. Seine Haut ist im Vergleich zu meiner porzellanweiß. Jeder Außenstehende würde wohl erkennen, dass ich nicht das leibliche Kind meiner Eltern bin. Dass sie meine Eltern sind und dabei so anders aussehen, war war für mich aber immer das Normalste auf der Welt.
»Jetzt müssen wir aber wirklich los!«, drängt Mama ungeduldig. »Ich werde dich fürchterlich vermissen, Kind«, sagt sie dann noch einmal und drückt mir einen Kuss auf die Schläfe. Auch mein Vater und Karla spendieren mir noch eine herzhaft-eilige Umarmung.
»Ich werde euch auch vermissen!«, sage ich schließlich ernster, als ich es meine. Klar, es ist so 'ne ultra spirituelle Reise mit so 'ner Art Digital-Detox, weshalb sie nur im Notfall erreichbar sind, aber ich schätze mal nicht, dass ich jeden Abend ein Schlaflied von meiner Mutter brauche.
Kaum ist das Motorengeräusch des Taxis in der Ferne verebbt und aus meinem Blickfeld verschwunden, lasse ich die Haustür hinter mir ins Schloss fallen und atme mit vor Freude klopfenden Herzen tief durch. Ich muss erstmal runterkommen und meine Gedanken sortieren.
Es wird mir erst jetzt richtig bewusst: Vor mir liegen zehn Wochen pure Freiheit in einer geräumigen Villa am Rande Berlins. Es hatte sich schon befreiend angefühlt, als Noah vor zwei Jahren ausgezogen war, um Medizin an der Uniklinik in Aachen zu studieren, doch das ist Freiheit in einer ganz neuen Dimension.
Jetzt kann ich endlich so richtig loslegen.
Erst einmal drehe ich die Stereo auf die volle Lautstärke und laufe dann hüpfend zu Nenas Irgendwie, irgendwo, irgendwann in die Küche, um mir ein Glas Limo mit Eiswürfeln einzugießen. Es ist mir ziemlich peinlich, dass ich den Song mag, aber es kann mich ja ohnehin niemand hören.
Anschließend kicke ich meinen luftabschnürenden Push-up-BH mit der kratzenden Spitze in irgendeine Ecke. Den werde ich so schnell garantiert nicht mehr wieder anrühren! Vielleicht vergammelt er auch, bevor ich ihn finde. Würde ich in Nenas besten Jahren leben, müsste ich das Ding erst gar nicht tragen, denke ich sehnsüchtig.
Meine ausgeleierten Shorts und das Bauchfreie Shirt scheinen mir das passende Outfit, um mir auf dem Pool der Dachterrasse meine Limo schmecken zu lassen.
Doch vorher schreibe ich Marlene noch eine SMS, in der ich ihr verkünde, dass die Luft jetzt rein ist. Wäre doch etwas selbstsüchtig, ihr mein Paradies auf Erden vorzuenthalten.
Wenig später klingelt es auch schon an der Haustür.
Ich laufe mit freudigen Sprüngen hinunter in den Eingangsbereich und reiße die Tür auf.
Als ich erkenne, wer da vor mir steht, weicht meine Freude im Gesicht jedoch, vor Schreck geweiteten Augen.
Hier steht Noah, mit mindestens einem Dutzend viel zu gutaussehenden Medizinstudenten, die ich mir, um Gottes Willen, nicht als starke Lebensretter in ihren weißen Kitteln vorstellen darf.
Noch nie habe ich mir so sehr gewünscht, der Erdboden würde auf der Stelle unter mir aufbrechen. Im Hintergrund läuft der Nena-Song noch immer in Dauerschleife.
Um die Peinlichkeit etwas zu überspielen, will ich mich schon seinen Freunden vorstellen, die ich noch nicht kenne, aber da kommt Noah schon auf mich zu. »Na, Kleine«, meint er schmunzelnd. »Bist wohl in den Neunzigern hängengeblieben.« Dann wuschelt er mir durch die Haare und marschiert an mir vorbei ins Haus.
Da stehe ich also. In einer viel zu kurzen, nicht vorzeigetauglichen zerknitterten Shorts, in meinem viel zu kurzen Shirt und meinen verstrubbelten Haaren. Zu allem Übel kann ich nächsten Moment förmlich spüren, wie sich meine Nippel in diesem wirklich unpassenden Augenblick durch mein dünnes Shirt bohren. Na toll, die Dinger lassen einem wirklich immer im Stich, wenn man sie gerade braucht oder — in meinem Fall — gerade gar nicht gebrauchen kann.
Und wenn ich mich nicht recht täusche, dann starrt Lucas, der beste Kumpel von Noah, geradezu auf die zwei kleinen Zipfelchen, die sich da auf meinem Shirt erheben.
Schützend verschränke ich meine Arme vor meiner Brust. »Naja, man sieht sich«, bringe ich hervor und verschwinde dann im Treppenhaus.
• • •
Marlene schlägt vor, etwas Hochprozentiges in die Limo zu kippen, doch das Blöde ist, dass wirklich nichts im Haus ist. Ich hatte auch nicht vor, mich zu betrinken, aber etwas Alkohol zum Feiern unseres bestandenen Abis wäre schon ganz nett. Außerdem muss ich diese peinliche Aktion von gerade eben irgendwie verdrängen.
Weil die Jungs gerade wieder weg sind, um Bier und Spirituosen zu kaufen, nutze ich die Gelegenheit, um in unserem Wohnzimmer nach einer brauchbaren Flüssigkeit zu suchen. Theoretisch könnte ich auch Noah fragen, aber ich habe so das Gefühl, dass er mich mal wieder wie ein Kind behandeln wird. Schon allein die Art, wie er mich vorhin begrüßt hat, beweist, dass er sich seit dem Abi kein bisschen verändert hat.
Im Flur fällt mir unsere Glasvitrine mit den teuren Schnäpsen ins Auge. Ganz vorne steht eine geschwungene Flasche mit glasklarer Flüssigkeit. In der Mitte erheben sich zwei Kirschen aus Glas.
Weil meine Eltern die ohnehin nur zur Schau gestellt haben, nehme ich die Flasche kurzerhand aus dem Regal. Zitrone und Kirsche dürften eigentlich recht gut miteinander harmonieren, oder?, überlege ich kurz und starre dafür einen Moment stirnrunzelnd in die Luft. Mein Entschluss, der etwas fragwürdigen Kombination eine Chance zu geben fällt eine gute Sekunde später, indem ich Marlene und mir einen großzügigen Schluck ins Glas kippe. Wenn schon, dann ordentlich, lautet die Devise in meinem Kopf.
Dann laufe ich in die Küche und ersetze die abgezapfte Flüssigkeit — wohlwissend, dass meine Eltern den edlen Tropfen ohnehin nie anrühren werden — mit einer ihr optisch ebenbürtigen Flüssigkeit — Wasser.
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Filmdosensommer
ChickLit❝Lach über das Leben❞, sagt er dann leise, aber bestimmt, ❝sonst lacht das Leben über dich.❞ Und es ist tatsächlich einfach. Simpel auf einem so verdammt hohen Level, dass es beinahe wieder poetisch wirkt. Vor Leia liegt der Sommer ihres Lebens: Sie...