»𝙴𝚙𝚒𝚕𝚘𝚐«

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Mit einem flauen Gefühl im Bauch steige ich samt meinem gigantischen Rucksack aus dem Taxi. Die Sonne geht gerade unter und ich werfe noch einen letzten wehmütigen Blick zurück. Nach Berlin. Der Ort, der wohl immer mein wahres Zuhause bleiben wird.

Ein lautes und dumpfes Rauschen baut sich hinter mir auf und ein Flieger erhebt sich in diesem Augenblick über mir in den Himmel. Ein Lächeln huscht über mein Gesicht.

Und keine Ahnung, ob ich heute wirklich Geburtstag hab, oder ob das südamerikanische Kinderheim daneben lag, aber das hier ist das beste Geschenk, das ich mir selbst je machen konnte.

Um mich herum sind lauter gestresste Menschen, denen im Laufen beinahe alles aus ihren Taschen und Koffern fällt. Ihrem Tempo nach zu urteilen, muss ihr Flieger schon in der nächsten viertel Stunde den Boden verlassen. Ich kann mir hingegen Zeit lassen. Mein Flieger geht schließlich erst in drei Stunden. Aber ich möchte auch keine Katastrophe provozieren. Also hebe ich mir in diesem Augenblick den Rucksack auf die Schultern.

Ich will schon auf die Flughafenhalle zusteuern, da vernehme ich plötzlich die ersten Klänge meines Lieblingslieds. Wer hört denn heutzutage noch Nena?, frage ich mich. Außer, ich natürlich. Ich muss unwillkürlich lächeln. Vielleicht ist das aber auch ein Zeichen, überlege ich. Ein Zeichen, noch kurz hier draußen in den letzten Strahlen der Abendsonne, die mir gerade so schön ins Gesicht leuchten, stehen zu bleiben und den Moment zu genießen. Ein Teil des Textes ist sogar wie gemacht für genau diesen Augenblick: Irgendwie fängt irgendwann. Irgendwo die Zukunft an. Ich warte nicht mehr lang.

Erst in einem zweiten Augenblick frage ich mich, woher die Musik denn kommt. Und als ich eine Sekunde später in die Richtung einer großen Werbeanzeigetafel blicke, kann ich meinen Augen nicht trauen. Anstatt einer Werbeanzeige, steht dort in großen verpixelten und blinkenden Lettern:

ALLES GUTE ZUM GEBURTSTAG, LEIA!

WIR LIEBEN DICH, DU FREAK.

Völlig verwirrt starre ich nach oben. Die Musik wird lauter und plötzlich sehe ich Marlene, die auf der anderen Straßenseite mit einem großen Bluetooth-Lautsprecher herumtanzt und direkt auf mich zu kommt.

Und als ich nach links und rechts schaue, sehe ich so viele bekannte Gesichter. Noah, Lucas, Alexander, Sam und die anderen. Jelena ist zwar auch dabei, aber das ist mir in diesem Moment völlig gleichgültig.

Marlene drückt Lucas eilig den Lautsprecher in die Hand und rennt dann mit vollem Tempo auf mich zu.

Als sie mir in die Arme springt, verliere ich dank des schweren Rucksacks mein Gleichgewicht und es haut mich mit voller Wucht nach hinten.

Praktischerweise sind im Rucksack fast nur weiche Sachen, sodass die Landung dadurch abgefedert wird. Marlene und ich liegen am Boden und sehen uns kurz geschockt an. Dann prusten wir los.

In der Zwischenzeit haben die anderen Marlene eingeholt und tanzen lachend zur Musik um uns herum.

Die Leute fragen sich bestimmt, was das hier für bekloppte Hippie-Idioten sind, aber dieser Umstand könnte mir im Moment nicht gleichgültiger sein.

Als ich den Blick von Marlene nehme und aufschaue, sehe ich direkt in Noahs Gesicht, das die untergehende Sonne am Horizont verdeckt. Grinsend streckt er mir die Hand entgegen und hilft mir auf.

»Ihr seid doch verrückt!«, rufe ich dann und lasse mich von Noah umarmen.

»Nicht so verrückt wie du«, sagt er in meine Haare.

Als wir uns wieder voneinander lösen, will ich mich schon nach Marlene umsehen, doch da steckt Noah plötzlich seinen Kopf zwischen meine Beine und hebt mich augenblicklich auf seine Schultern.

Ich kreische vor Schreck auf und übertöne damit beinahe meinen Lieblingssong.

Noah dreht mich im Kreis bis ich schwindlig bin und tanzt dann zusammen mit den anderen zum Takt der Musik.

Theatralisch strecke ich meine Arme wie bei einem Konzert in die Höhe und lächle meinen Freunden von oben zu.

Marlene tanzt mit Sam und als er sie herumwirbelt, breiten sich ihre kurzen Haare dabei wie ein kleiner Fächer aus. Auch Alexander und Lucas führen einen Tanz vor — ihre Bewegungen sind allerdings etwas übertrieben und unbeholfen. Als Nena singt Gib mir die Hand. Ich bau' dir ein Schloss aus Sand, nehmen sie sich betont sentimental und überschwänglich an der Hand. Als Krönung lässt sich Alexander sogar vor Lucas ins Hohlkreuz fallen.

Ich muss lachen. Die beiden sind echt so albern.

Und in diesem besonderen Augenblick fallen mir plötzlich die Worte ein, die ich am Anfang dieses Sommers zu Lucas gesagt hab: Wir sind doch bloß kleine Wesen in einem unendlichen Universum. So klein.

Aber vielleicht habe ich dabei eins außer Acht gelassen. Denn da gibt es diese ganz besonderen Momente im Leben, in denen du dich nicht mehr klein und bedeutungslos fühlst. Du tanzt zu deinem Lieblingssong zusammen mit deinen Lieblingsmenschen und du siehst alles nur noch in deinem ganz persönlichen gedehnten Zeitraffer. Du beobachtest die ausgebreiteten Haare, die im magischen Licht des Sonnenuntergangs leuchten, das sich mit den bunten Lichtern der Großstadt mischt; nimmst all die freundlichen Berührungen wahr, die strahlenden Gesichter.

In diesem Moment glaube ich vielleicht doch an den Sommer meines Lebens. An dieses Gefühl, ewiger Nähe und von völliger Freiheit, in der ich mich so gar nicht alleine fühle. In diesem Moment fühle ich mich nicht klein und unscheinbar. Ich fühle mich nicht überflüssig, nicht ungebraucht.

Eher grenzenlos.

Und vielleicht ist es okay, wenn wir nicht immer wissen, wohin unsere Reise geht. Am Ende kommt doch alles immer völlig anders, als wir glauben.

Ich meine, egal, ob alles gut wird, oder die Welt in sich zusammenstürzt. Sind wir es uns nicht selbst schuldig, uns wenigstens in der Zeit davor glücklich zu fühlen?

Und vielleicht werden wir auch nie wissen, was wir eigentlich wollen — vom Leben meine ich. Aber das ist okay. Denn wenn ich mir meine spießigen und rentenreifen Eltern anschaue, da kann ich doch einiges lernen. Die haben schon so viele Jahre auf dem Buckel und doch suchen sie sich selbst, indem sie eine völlig überteuerte Reise mit einem verrückten Guru auf sich nehmen.

Und ja, vielleicht war ich damals, als ich noch zur Schule ging, auf der sicheren Seite. Ich hatte immer alles im Griff und ich wusste, was als Nächstes kommen würde. Es gab kein Drama, keine Überraschungen, keine Lebenskrisen. Ich hab keine Fehler gemacht.

Aber ist das wirklich so viel besser?

Ich wage es zu bezweifeln. Denn ein sehr intelligenter Mensch hat mir mal gesagt, das Leben wäre die Summe all unserer verbrachten Tage.

Und ich habe so das Gefühl, als würden die ungewöhnlichen mehr zählen.

The End.

Aaah, ich kann es nicht fassen, dass jetzt auch diese Geschichte zu Ende ist — und dann gibt es diesmal sogar fast sowas wie ein Happy-End — was wirklich so gar nicht typisch für mich ist (Dramaqueen forever 😂). Aber das ganze Konzept der Geschichte ist für mich ein fröhliches. Eine Geschichte, in der man sich verlieren kann und vielleicht auch eine Geschichte, in der ich ein paar meiner eigenen Erlebnisse revue passieren gelassen und ein paar meiner eigenen Gedanken zum Erwachsenwerden und zum Leben mit euch geteilt habe.

Fühlt euch gedrückt von mir. Und wir sehen uns gerne gleich bei einer meiner anderen Geschichten.

Ich wünsche euch noch einen wunderbaren crazy Mittwoch!

Eure Anna Vanilla

FilmdosensommerWo Geschichten leben. Entdecke jetzt