»𝟸𝟿«

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Im kleinen Raum hängt kein einziges Kleidungsstück. Alle Regale sind gefüllt von tausenden dieser schwarzen Filmdosen mit grauem Deckel.

»Leia, er ist brillant«, höre ich plötzlich die Stimme von Lucas in meinem Rücken.

Und da passiert es, eine Träne kullert mir über die Wange. Es ist mir gar nicht aufgefallen, wie sich in den letzten Momenten ein Klos in meinem Hals gebildet hat.

Da stehen wir nun also. Beide ohne weitere Worte.

»Leia, alles okay?«, erkundigt sich Lucas nach einigen Augenblicken völlig besorgt und legt mir einen Arm um die Schulter. »Hab ich was Falsches gesagt?«

Ich versuche mich an einem Lachen, doch meine Tränen werden nur noch dicker und lösen sich wie Perlen aus meinen Augen, die auf meinen Zehenspitzen zerspringen.

Ich will mir eine Ausrede einfallen lassen, doch ich kann nur daran denken, wie unglaublich Noah doch ist; was für ein herausragender Arzt aus ihm geworden wäre. Er hätte ein Mittel gegen Krebs in seinem Stadium finden und den Nobelpreis gewinnen können.

Und all das wird jetzt niemals geschehen, weil er nicht mehr genug Zeit hat, um sich selbst zu heilen.

Irgendwie schon ironisch.

Der Krebs ist der Grund, weshalb alles angefangen hat und der Grund, warum alles endet.

»Leia, sag schon, was ist los?«, kommt es erneut von Lucas  als ich noch immer nichts erwidert hab.

»Sorry, ich hab nur daran gedacht, wie traurig ich bin, dass ihr alle schon so weit seid und ich...ich weiß noch nicht einmal, was ich studieren...«, setze ich an, doch dann entscheide ich mich um und verstumme mitten im Satz.

Gott, Lucas ist so ein guter Mensch, ich kann ihn nicht anlügen.

»Lucas, vergiss, was ich jetzt gesagt hab, das ist gelogen.«

Verwirrt blickt er mir entgegen.

»Es ist was Schlimmes passiert«, bringe ich hervor und breche sofort in einen Heulkrampf aus.

Als ich die Worte ausspreche, da sehe ich das blanke Entsetzen in seinen Augen. »Leia...«, will er beginnen, doch ich falle ihm erneut ins Wort.

»Geh zu Noah, ich...ich kann es dir nicht sagen...«

• • •

Eigentlich hätte heute Abend wieder eine Party steigen sollen, aber um zehn Uhr dringt noch immer keine Musik von unten herauf. Am Himmel haben sich zwar bereits schon dichte Gewitterwolken gebildet, aber ich habe trotzdem so das Gefühl, dass es etwas mit meinen Worten vorhin zu Lucas zu tun hat. Hat es ihm Noah etwa schon gesagt?

Ich trete aus meinem Zimmer heraus und lausche vorsichtig. Nichts. Das Haus scheint wie ausgestorben.

Da ich noch kein Abendessen hatte und mein Bauch ohnehin schon protestierend grummelt, mache ich mich auf den Weg in die Küche.

Ich muss immer wieder an Noah denken, wie er gestern vor mir geheult hat. Nie hätte ich geglaubt, im Gesicht eines Menschen je so viel Schmerz und Trauer zu sehen. Es zerreißt mich, wenn ich nur daran denke.

Zum Glück sind wir gestern im letzten und kaum besuchten Stock des Gebäudes gewesen, sodass in dieser Zeit niemand ins Bad gekommen ist. Noah hat sich aber auch relativ schnell wieder gefangen, sodass wir eigentlich bald wieder aus dem Bad raus sind.

Ich habe ihm angeboten, in der Nacht bei ihm zu schlafen, damit er sich wenigstens nicht allein fühlt, doch da hatte er sich bereits wieder seine Mauer aufgebaut.

So konnte ich den ganzen restlichen Abend fassungslos zusehen, wie er Jelena schöne Augen gemacht hat.

Inzwischen sollte mich bei ihm eigentlich nichts mehr schocken, aber auf diese Wendung bin selbst ich nicht gefasst gewesen.

Ich weiß zwar einerseits, dass er sich bloß vor der Realität versteckt, andererseits bin ich aber auch furchtbar wütend auf ihn. Unweigerlich muss ich an Marlenes Worte denken. Sie meinte, dass sich Männer wie Noah nie ändern würden. Und vielleicht hat sie Recht.

Ich betrete die Küche ohne Licht zu machen und öffne den Kühlschrank. Das Licht aus dem Inneren erhellt den in Dämmerung gehüllten Raum.

Plötzlich vernehme ich ein Geräusch.

Erschrocken blicke ich nach recht zum Tisch.

Da sitzt Lucas mit einer Tasse in den Händen und starrt mich an.

»Hab dich gar nicht gesehen«, murmle ich und in seinem Gesicht sehe ich, dass Noah es ihm gesagt hat. All seine gewöhnliche Leichtigkeit ist aus seinem Ausdruck gewichen.

»Er ist der cleverste Mensch, den ich kenn'«, haucht er und sein Blick geht ins Leere. »Aber, damn, er ist so scheiß dumm!«

Und ich weiß, was er damit meint. Noah hätte sich für eine Behandlung entscheiden sollen.

Ich nicke und hoffe, dass Lucas es bemerkt.

»Ich meine, es gibt so viele Wunder in der Medizin...« Jetzt sieht er mich an. »Ich versteh' das einfach nicht«, redet er dann Zusammenhangslos weiter, »bei seinen Prüfungen hat er nie aufgegeben, aber sich selbst gibt er auf?! Scheiße, das ist doch völlig hirnverbrannt!« Er lässt eine Handfläche über seine Stirn gleiten.

Ich fasse nach seinem freien Arm und drücke ihn mit meiner kleinen Hand. »Ich kann's auch nicht verstehen«, sage ich und meine Stimme ist nicht mehr als ein Flüstern.

Es tut gut, dass es jemanden gibt, der es genau so sieht wie ich ⏤ auch, wenn ich weiß, dass Noah seine Meinung nie ändern wird. Das hat er noch nie getan.

Am liebsten würde ich Lucas mein Herz und meine Seele ausschütten und ihm von uns beiden erzählen, aber inzwischen hab ich eins verstanden. Selbst Erwachsene können nicht an einem Tag miteinander schlafen und dann die besten Freunde sein. Außerdem ist er Noahs bester Freund.

Ich habe schließlich Marlene. Naja, eigentlich ist sie nicht gerade hilfreich, weil sie schlicht auf Noahs eigenen Willen verweist. Angeblich kann sie ihn sogar verstehen. Es scheint beinahe so, als wäre es ihr egal, was mit ihm passiert. Ganz genau so wie es scheint, als wäre Noah sich selbst egal.

»Shit«, stößt Lucas dann hervor. »Was machen wir ohne ihn?« Er fängt meinen Blick ein, als könnte ich ihm eine Antwort geben.

»Wir leben weiter«, entgegne ich und ich habe keine Ahnung, woher diese Worte in diesem Augenblick kommen. »Wie war das noch?«, frage ich mit dem Versuch eines Lächelns auf meinen Lippen. »Lach über das Leben, denn sonst...« Ich unterbreche mich selbst und sehe ihm erwartungsvoll entgegen.

Ein kleines Lächeln erscheint in seinem Gesicht. »...denn sonst lacht das Leben über dich«, beendet er meinen Satz, doch im selben Moment verwischen Tränen sein Lächeln. »Fuck«, sagt er dann leise, »das ist gar nicht so einfach.«

Da wir uns dem Ende nähern (4 Kapitel fehlen noch), wollte ich euch fragen, wie ihr so denkt, dass die Geschichte ausgeht? ⏤ auch, wenn ich mir ziemlich sicher bin, dass mit dem Ende keiner rechnet 😜 Ich wünsche euch noch einen super Start ins Wochenende!

Eure Anna Vanilla ♡

FilmdosensommerWo Geschichten leben. Entdecke jetzt