»𝟹𝟷«

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Nachdem wir Noah in der Notfallaufnahme angemeldet haben und er umgehend von Ärzten auf eine Trage gehievt wird, sitzen Lucas und ich mit nervösen Beinen im Gang des Krankenhauses.

Weil es unter der Woche und schon halb drei ist, sind die Flure des Krankenhauses wenig belebt. Nur dann und wann eilt ein Arzt im weißen Kittel vorbei.

Bis jetzt haben Lucas und ich geschwiegen und mit den Ellbogen auf den Knien gegen den langweiligen türkis-weißen Linoleumboden gestarrt, aber in diesem Moment hebe ich meinen Blick und schaue ihn an.

»Was ist eigentlich passiert?«

Erschrocken von meiner Stimme, sieht er blitzartig auf, richtet seinen Blick dann jedoch wieder auf den Boden. »Ich wollte noch einmal zu ihm«, beginnt er und fährt sich durch die dunklen Haare. »Er hat mir die Tür geöffnet und ist dann ganz plötzlich in sich zusammengesunken. Kurz war er bewusstlos und dann hat er plötzlich tanzende Punkte vor dem Gesicht gesehen.«

»Hat das irgendwas mit seinem Hirntumor zu tun?«, frage ich etwas pragmatischer, um nicht ins völlige Gefühlschaos abzudriften. Ich weiß, dass Noahs Tumor schon damals dort saß.

Lucas sieht mich wieder an, offensichtlich dankbar für meine Sachlichkeit. »Ja, der Hirntumor drückt manchmal auf den Sehnerv«, erklärt er mir.

Ich nicke.

Dann schweigen wir wieder.

Nach einiger Zeit wandern meine Gedanken wieder zu meinem Flugticket und mir wird klar, dass ich nicht fahren kann, bevor es ihm nicht wieder besser geht. Ich würde es mir sonst ewig vorwerfen, dass ich ihn im Stich gelassen habe. Denn ich weiß, irgendwann wird es völlig gleichgültig sein, dass er mir einmal mein Herz zertrümmert hat.

•  •  •

In ein paar Tagen ist mein Geburtstag, genauer gesagt an dem Tag, an dem mein Flieger hätte abheben sollen.

Ich hab meinen Geburtstag nie sonderlich gemocht. Eher hab ich ihn gehasst. Da ich nie sonderlich viele Freunde hatte, wollte auch nie jemand zu den Feiern kommen, die meine Mutter veranstaltete. Sie hatte immer alles perfekt vorbereitet. Eine perfekte Torte mit bunter Schrift, Luftballone und die passende Dekoration. Zur perfekten Feier fehlte ihr aber die perfekte Tochter mit den vielen Freunden.

Ich hätte mir nie ausmalen können, dass es an meinem Geburtstag einmal noch weniger zu feiern geben würde als damals.

»Sie sollten sich etwas ausruhen«, ertönt plötzlich die Stimme einer Ärztin und ich schrecke hoch.

Die junge Frau hat die Hände in den Taschen ihres Kittels und sieht Lucas und mich mitfühlend an. »Gehen Sie nach Hause, morgen wissen wir mehr.«

Ich werfe einen Blick auf das Display meines Handys. Kurz nach halb fünf.

»Aber wir können doch nicht gehen, ohne zu wissen, was mit ihm ist«, fasle ich und fühle dabei, wie meine Lider flattern. Ich bin hin- und hergerissen zwischen Müdigkeit und Aufregung.

»Sie brauchen dringend ein paar Stunden Schlaf«, macht uns die Ärztin klar, »es hilft Ihrem Freund nicht, wenn Sie sich hier selbst quälen.«

Wäre ich allein gewesen, dann hätte ich hier vermutlich noch die ganze Nacht verbracht, aber Lucas nimmt mich sanft bei der Hand und zieht mich mit sich.

•  •  •

Ich schlafe unruhig und schlecht. Immer wieder wache ich auf und schaue auf die Zahlen meines leuchtenden Weckers. Als es zehn Uhr am Morgen ist, gebe ich schließlich endgültig auf. Mit dem Gedanken an Noah, kann nicht noch eine Sekunde schlafen, ich muss zu ihm.

Weil Lucas noch döst, steige ich in den Käfer meiner Mutter und fahre alleine los.

Bevor Lucas und ich gestern Abend gegangen sind, hat uns die Ärztin noch die Zimmernummer von Noah gegeben, sodass wir ihn am nächsten Tag nicht suchen müssen.

Als ich mich eine halbe Stunde später im sprechenden Lift des Krankenhauses befinde, streiche ich mit zittrigen Fingern den zerknüllten Notizzettel glatt, wo Nummer und Stock drauf stehen. Dann drücke ich den angegebenen Knopf im sprechenden Lift. Die Fahrt macht mich schwindlig und ich fühle die Benommenheit des Schlafentzugs.

Im Stock angekommen, laufe ich mit klopfendem Herzen den Gang entlang. Die Zimmernummern verschwimmen im Vorbeirennen fieberhaft vor meinen Augen.

Endlich finde ich sein Zimmer und platze, ohne vorher anzuklopfen, herein.

Verwirrt sehe ich mich um. Im Zimmer steht nur ein Bett, aber es ist leer. Oh nein, ist er jetzt vielleicht auf der Intensivpflegestation gelandet?

»Wo ist Noah?«, krächze ich verzweifelt, als eine Krankenschwester den Flur runter kommt. »Ist er auf der Intensivstation? Wird er gerade operiert?«

»Warten Sie, ich muss Ihnen schnell in den Akten nachsehen. Bitte haben Sie einen Augenblick Geduld.«

Fieberhaft fahre ich mir durch die Haare. Was, wenn sie ihn gerade operieren und er es nicht schafft? Dann würde ich ihn nie wieder sehen. Nie wieder.

Ich merke, wie sich meine Atmung beschleunigt. Ich muss mich beruhigen!

Keuchend setze ich mich auf das leere Bett und starre auf den traurigen Boden. Er darf einfach nicht sterben. Ganz besonders nicht heute!

Ich hätte gestern nicht mit ihm streiten dürfen. Jetzt kann ich ihm vielleicht nie mehr sagen, wie leid es mir tut.

Plötzlich fühle ich etwas an der linken Hand. Ich greife danach und sehe den kleinen Gegenstand an. Es ist eine Filmdose. Eine, wie ich sie aus Kindertagen kenne, schwarz und mit grauem Deckel.

Langsam und mit zitternden Händen nehme ich den Deckel der kleinen Plastikdose ab.

»Schau aus dem Fenster«, steht auf einem kleinen Zettel in Noahs Handschrift. Ich muss kurz lächeln, weil er noch immer die runde Schrift eines 14-jährigen Mädchens hat.

Irritiert stehe ich auf, gehe an das Fenster des Zimmers und blicke durch die große Glasscheibe.

Und was ich dann sehe, trifft mich mit so einer Wucht, dass es mir blitzartig Tränen in die Augen treibt.

FilmdosensommerWo Geschichten leben. Entdecke jetzt