56. Soluna (Angriff)

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Wir liegen jetzt schon seit Stunden auf der Lauer. Um Mitternacht gab es einen Wachwechsel der jedoch absolut unspektakulär von statten ging und mir nur die Möglichkeit gab, weitere Gesichter zur Liste meiner Feinde hinzuzufügen. Aus einigen Schießscharten unseres Ziels dringt Licht nach draußen und ich suche sie immer wieder ab, in der Hoffnung, zumindest einen kleinen Einblick in das Gebäude zu finden. Aber viel zu sehen, außer ab und zu Schatten die sich darin bewegen, gibt es nicht.

Es ist Null Zweihundert und ausnahmsweise tut sich etwas. Allerdings nicht innerhalb des Gebäudes. Von Norden her nähert sich ein Fahrzeug und es muss schon sehr nahe sein, denn die Elektroautos sind ziemlich leise. Doch der Wind steht günstig und treibt das Geräusch vor sich her direkt zu uns. Es ist ja auch nicht so, als gäbe es viele andere Geräusche in der Nacht. Alle Männer in der Nähe gehen in Deckung und warten gespannt auf das, was da kommt. Der Jeep hält direkt vor dem großen Eingangstor und ich bin nicht überrascht zu sehen, wer heraus klettert um mit der Wache zu reden. "Die Verliveri-Ratte meldet sich zum Dienst, wie es scheint." Flüstere ich und erhalte ein zustimmendes Brummen von rechts. "Der andere sitzt auch im Wagen, ist er auch einer von Ihnen?" Wie immer bin ich voller Fragen und nicht zufrieden, bevor ich nicht alles verstanden habe. "Der Kommandant meinte, nein. Er dachte eigentlich, dass er der Mann war, der von den Townsies erwartet wurde." - "Was macht er dann jetzt hier?" Meine letzte Frage kann mir Luke auch nicht beantworten.

Der Wagen verschwindet im Bauch des Überwachungsobjekts und draußen wird es wieder still. Ungefähr 10 Minuten später geht im Turmzimmer das Licht an. Es sieht wie ein Flughafen-Tower aus der Vorzeit aus und ist rundum verglast. Ich bin froh dass ich bei meinem Zielfernrohr an meinem Gewehr immer schnell die Nachtsicht ein- und wieder ausstellen kann. Zu gerne würde ich mit einem Schuss ausprobieren, ob es sich um Panzerglas handelt, aber damit würde ich nur unerwünschte Aufmerksamkeit erregen. Statt dessen beobachte ich mittels Tiffany wie die Ratte und ihr Freund von einem älteren Mann empfangen wird. Die Diskussion scheint heftig und ich werde das Gefühl nicht los, dass ich auch diesen Mann kenne. Er wendet sich schließlich ab und kommt auf mich zu, so wirkt es jedenfalls durch mein Visier. Er scheint mich direkt anzustarren, doch ich bin mir ziemlich sicher, dass er aufgrund der Dunkelheit hier draußen allerhöchstens sein eigenes Spiegelbild anstarrt.

Mein Nacken prickelt und ich lasse das Bild in mir auftauchen, dass mein Gehirn mit diesem Gesicht verbindet. Die Haare lang, schmutzig blond und wild wie eine Löwenmähne, das Gesicht kantig mit kleinen Schweinsaugen. Seine Lippen sind voll und geschwungen doch der Ausdruck darauf spiegelt die pure Brutalität wieder, mit der er und seine Bande über unsere Familie herein gefallen ist. Leon der Löwe, einer der Clanchefs der Veliveri. Seine Brüder konnte ich nie ausfindig machen, ebenso wenig wie meine Mutter, die vermutlich tot ist. Oder sollte ich hoffentlich sagen? Verdammt, das Ganze ist 24 Jahre her und noch immer packt mich das Grauen. Immerhin zittere ich nicht mehr am ganzen Leib, nur weil ich ihn jetzt sehe. 'Bruder im Blute' schießt es mir durch den Kopf und und das Bild des anderen Verbrechers aus der Bar erscheint und in dem Moment wird mir klar: "Scheiße, das war dein Sohn, oder?"

Wiesel schaut besorgt zu mir rüber. "Wer, die Ratte? Willst du mich beleidigen?" Ich habe ihn ganz vergessen, oder besser gesagt ausgeblendet und bin für einen Moment etwas orientierungslos. "Was?" Er bemerkt jetzt, dass ich blass geworden bin und nimmt seinen Feldstecher, um das zu sehen, was ich gerade anstarre, doch Leon hat sich in diesem Moment umgedreht und steht jetzt mit dem Rücken ans Glas gelehnt. Er müsste heute um die 60 Jahre alt sein. Seine Haare sind dünn geworden und er trägt sie jetzt kürzer. Sein Nacken ist aber immer noch so breit und dick wie bei einem Stier. Warum ist mir die Familienähnlichkeit nicht damals schon aufgefallen? "Der große Oberboss dort ist Leon der Löwe, einer der übelsten Clanchefs im Außenland von Europa und wie es aussieht, hat er noch immer Kontakt zu seiner Familie." Luke sieht mich jetzt neugierig an. "Und du kennst ihn und seinen Sohn?" Ich nicke grimmig. "Ich war es, die ihn und seine engsten Freunde hier hergebracht hat. Und ich schätze, der Verbrecher, der da mal eben meinen Tisch übernehmen und auf meine Kosten saufen wollte, war sein Sohn."

Die Scharfschützin ✅Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt