4. Eintrag, Mittwoch

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Saß mit Kevin auf einer Bank vorm Café, anstatt zur Schule zu gehen. Er arbeitet jetzt da. Macht guten Kaffee.

Er meinte, ich sollte lieber was essen, anstatt nur Kaffee zu trinken. Ich meinte, ich trinke aber lieber Kaffee.

Kevin wollte eigentlich mal aufs College. Seine Noten waren auch gar nicht so schlecht. Nur das Geld fehlte eben. Jetzt arbeitet er tagsüber im Café und vertickt nachts Drogen.

Er will was Besseres für mich, hat er gesagt.

Ich hab gesagt, dass es nichts Besseres gibt.

Ich solle mir Hilfe suchen. Ich bräuchte keine Hilfe. Therapie, meinte er. Ich bräuchte jemanden zum Reden. Ich redete mit ihm.

Ich weiß nicht mehr genau, wann wir uns kennengelernt haben. Ich muss elf oder zwölf gewesen sein. Er war der erste und einzige, der mich zu dieser Zeit Moore nannte. Deshalb mochte ich ihn. Er hat nie gelacht. Er hat nie dumme Sprüche gebracht. Er war einfach da.

Dann hat er gefragt, wie es in der Schule läuft.

Schlecht, immerhin saß ich mit ihm vorm Café, anstatt im Geschichtsunterricht.

Außerdem habe ich das Friedhofstor wieder aufgebrochen.

Verdammte Scheiße, Moore. Da kannst du für verknackt werden.

Ich glaube nicht.

Ich mag es immer, mit Kevin zu sprechen. Meistens reden wir über Kleinigkeiten. Über ungezwungene Dinge. Über Dinge, die mich nicht belasten.

Das sind die wenigen Momente, in denen ich mich normal fühle.

Er hat nach meiner Schwester gefragt. Alicia geht es gut, hab ich gesagt.

Ich glaube, er will was von ihr.

Irgendwie ist es so bedeutungslos. Je länger ich darüber nachdenke, desto bedeutungsloser werden diese Unterhaltungen. Wir kratzen nur an der Oberfläche, weil es tiefer wehtut. Aber die Oberfläche ist belanglos.

Ich fühle mich allein, wenn wir reden und das tut weh. Dann gräbt der Schmerz immer weiter, bis er auf die Leere stößt.

Genauso gut könnte ich mit der Wand reden.

Moore starrt raus in die Nacht. Er will einen Freund, wirklich. Er will über den Schmerz reden. Über seine Finger, die zu schmal sind, über sein Gesicht, das zu rund ist, über seinen Körper, der nicht sein Körper ist und über den Schmerz.

Er will darüber sprechen und nicht lügen, aber er will den Schmerz nicht. Er hasst ihn. Er hasst dieses widerliche Gefühl.

Wütend fegt er die Zettel von seinem Schreibtisch. Alles ist so beschissenen sinnlos, wenn man sich fürchtet.

Er nimmt eine dunkle Haarsträhne zwischen seine Finger und zieht daran. Druck auf seiner Kopfhaut. Am liebsten will er die ganze verfluchte Strähne rausreißen.

Er führt Krieg gegen sich selbst. Was ist das für eine Scheiße?

Tränen tropfen auf den Schreibtisch. Er heult wie ein Mädchen. Wie ein beschissenes Mädchen. Seine Finger umklammern den Stift und drücken die Spitze in seine linke Handfläche.

Schmerz, tauber Schmerz.

Darüber kann er mit Kevin nicht sprechen. Er würde es nicht verstehen. Er würde den Schmerz nicht wollen. Keiner will den Schmerz.

Es ist sein Schmerz. Es ist seine Schuld. Wie kann er erwarten, dass andere ihn nicht hassen, wenn er sich selbst nicht nicht hassen kann?

Seine Gedanken wandern zurück auf den Friedhof. Ja, er würde sich dort am liebsten in die Erde legen und nicht mehr aufwachen.

Sterben ist was für Tote. Er ist schon tot.

Therapie. Sie haben kein Geld für Therapie. Und die Schulpsychologin ist fürn Arsch.

'Chaos', formen Kanes Lippen wieder in seinem Kopf. Ja, Chaos. Da ist nur Chaos. Moore kneift die Augen zusammen, seine Schläfen schmerzen, seine Hand blutet.

Er kann morgen nicht wieder aufstehen und in die Schule gehen. Er kann einfach nicht mehr. Er hat die Kraft nicht mehr. Er erträgt keine Sportstunde mehr, in der er auf der Bank sitzt, keine Mathestunde, in der man ihn auslacht.

Er erträgt Tylers Hände auf seiner Haut nicht. Große, grobe Hände. Machtlosigkeit. Er erträgt es nicht, wie Lindsay ihn ansieht. Als wäre er eine Ratte.

Er wünschte, er wäre nicht diese Ratte. Das wünscht er sich wirklich.

Viel lieber wäre er jeder andere. Nicht hier, in diesem Leben, in dieser Welt.

Plötzlich klopft es an seine Tür. Alicia steckt ihren Kopf in sein Zimmer. Sie benutzt viel zu viel Make-Up dafür, dass sie erst 15 ist.

"Essen", schmatzt sie mit Kaugummi im Mund. "Jetzt."

"Kein Hunger", erwidert er. Er hat nie Hunger.

"Laber keine Scheiße", sagt sie. "Essen. Jetzt."

Weil er weiß, dass sie nicht verschwinden wird, bis sie ihn aus seinem Zimmer genötigt hat, steht er auf.

"Warum blutet n deine Hand?", will sie wissen, aber eigentlich will sie es nicht wissen.

"Kann dir egal sein", murmelt er.

Sie zuckt mit den Schultern. Ist ihr egal.

Ihre Küche ist klein und schäbig, das Mobiliar bunt zusammengestellt. Zu essen gibt es meistens Mikrowellengerichte, weil seine Mutter nicht kocht. Und ihr Drogendealer auch nicht. Und Alicia ist sich zu fein dafür. Deshalb gibt es Makkaroni mit Käse. Fast immer.

Seine Mutter sitzt nebenan im Wohnzimmer und starrt mit leerem Blick auf die Glotze. Rodney setzt sich am Küchentisch nen Schuss Heroin.

"Ich dachte, man soll sein Zeug nicht selber nehmen", nuschelt Moore.

"Halt die Fresse", gibt Rodney zurück.

Der kann ihn auch nicht leiden. Findet ihn neunmalklug und seltsam, dabei spricht Moore in seiner Gegenwart fast nie.

"Wenigstens nicht beim Essen", nickt Alicia und macht eine Kaugummiblase.

"Du auch", Rodney starrt sie finster an. "Kleine Schlampe."

"Fick dich ins Knie."

"Fick du dich doch ins Knie."

Manchmal glaubt er, sie sind beide erst 15. Alicia wird gerade rebellisch, Rodney hat nie damit abgeschlossen.

Jetzt ist er 39 und setzt sich Schüsse am Esstisch. Moore hofft, er stirbt, bevor er so werden kann.

Mechanisch nimmt er sich einen Teller aus dem Schrank und füllt sich Nudeln auf. Er isst sie eh nicht, aber keiner ist zufrieden, wenn er nicht zumindest so tut, als ob.

"Schule hat angerufen", sagt Rodney, während er seinen Arm abschnürt.

Moore zuckt mit den Schultern.

"Warst nicht da."

"Warum sollte ich?"

"Moore denkt, alle hassen sie", schmatzt Alicia und klebt das Kaugummi an ihren Tellerrand.

Ein Stich in Moores Brust.

"Wenn du so weitermachst, steht bald das Jugendamt vor der Tür", brummt Rodney.

Dann finden sie hoffentlich seine Drogen und sperren ihn ein. Dann kann Moore endlich weg von hier.

"Gut."

Rodney erhitzt das Heroin und hebt eine Augenbraue. "Gut?"

Er nickt. Gut. Endlich weg von hier. Beschissen gut.

Manchmal frage ich mich, was Kane tun würde.

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