9. Eintrag, Montag

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Schule ist anders, irgendwie. Kann nicht sagen, was es ist. Alles wie in Watte gepackt, fremdartig. So war es noch nie.

Hab Kane vorm Unterricht noch gesehen. Saß draußen auf ner Bank und hat geraucht.

Hatte wieder die Armeejacke an. Und n Pearl Jam Shirt. An seinem Rucksack sah man ganz deutlich das 'A'.

A für Anarchie. Muss ihn mal fragen, warum er's trägt.

An die Armeejacke hat er ein Peace Zeichen gesteckt. So wie in Full Metal Jacket. Irgendwie widersprüchlich. Aber Kane wirkt auch nicht wie jemand, der viel von Gewalt hält.

Eher Hippie.

Aber was weiß ich schon. Viel zu wenig, eigentlich.

Er hat gelächelt und seine blauen Augen haben gestrahlt. War wieder neidisch auf sein Gesicht. Und auf diese tiefe, warme Stimme. Und generell auf alles, was er ist und ich nicht.

Hat mich zu sich rangewunken.

"Was geht?", begrüßt er mich und hält mir dann ne Kippe hin. Hab nie geraucht, bis ich ihn kannte. Aber der Rauch beruhigt.

Er ist der Nebel über den Häuserdächern. Der Nebel, der in einen hineinkriecht und das Leben für einen Sekundenbruchteil erträglicher macht.

"Hast du morgen Nachmittag Zeit?", hat er gefragt. Ich hab Ja gesagt. Hab noch nie Ja gesagt. Hatte nie wen, zu dem ich Ja sagen konnte.

Kevin ist mehr sone oberflächliche Geschichte. Eine, die der nächste Regen fortspült.

"Bei mir", meinte er. Dann hat er mir seine Adresse genannt. Ist gar kein so mieses Viertel. Da wohnen die glücklichen Familien.

Ich nicht. War nie glücklich. Und als Familie betrachte ich Mom und Alicia auch nicht.

Familie sind die, die einem etwas bedeuten und denen man selbst etwas bedeutet. Ich bin nur eine Last. Eine Enttäuschung. Die wären besser dran ohne mich und ich besser ohne sie.

Hab Kane nochmal nach seinem Dad gefragt. Er hat mit den Schultern gezuckt.

"Dem is egal, was ich mache", hat er gesagt. "Könnt die Schule anzünden und es wär egal."

Weiß nicht, ob er die Wahrheit gesagt hat. Klang nicht so. Er hat bis jetzt immer die Wahrheit gesagt. Aber plötzlich flackerte es in seinen Augen.

Moore sieht von der Seite auf, als die Tür aufgestoßen wird. Seine Finger zittern. Vor Schreck lässt er Stift und Tagebuch fallen.

"Verdammte Scheiße, Moore, du sollst dich aus dem Mädchenklo verpissen, hab ich gesagt!", herrscht Lindsay ihn an.

Er würde ja. Er würde wirklich. Tatsächlich täte er nichts lieber. Aber er kann die Blicke nicht ertragen. Und er ist nicht sicher vor Tyler, wenn er das Jungsklo benutzt. Als er es versucht hat, haben die ihn verprügelt.

"Na was haben wir denn da?"

Ihre Hände mit den langen Nägeln greifen schneller nach dem Buch, als er es kann. Hastig öffnet er die Tür der Klokabine, sieht sich panisch um.

Das darf sie nicht! Das darf keiner! Keiner! Das sind seine Gedanken. Sein Ich, das sie da in den Händen hält. Sein Ich, das sie lachend durchblättert. Sein Ich, aus dem sie Seiten herausreißt.

Es fühlt sich an, als wären es Eingeweide. Fast kann er spüren, wie sich ihre künstlichen Nägel in seine Leber graben. Ihm wird schlecht.

"Bitte, hör auf", hört er sich flüstern. Seine Wangen brennen vor Scham.

Keiner hat ein Recht dazu, ihn zu lesen. Keiner hat ein Recht auf diesen Schmerz. Es ist sein Schmerz.

"Hab Kane vorm Unterricht noch gesehen", liest sie laut vor.

Er versucht, an sie heranzureichen, aber sie ist viel größer als er.

"Er hat gelächelt und seine blauen Augen haben gestrahlt", fährt sie schadenfroh fort.

Dieser Schmerz ist neu. Sein Inneres nach außen gekehrt. Sie häutet ihn lebendig, weiß es nur noch nicht. Das ist seine Seele, die sie da vorliest. Wie kann sie nur?

"Bitte, gib es mir wieder", er streckt sich nach dem Buch aber reicht nicht heran.

"Schwärmst wohl für Kane Wellington, hmm?", fragt sie gehässig. "Genauso ein Weirdo wie du."

Er fühlt heiße Tränen auf seinen Wangen. Bittere Verzweiflung. Er kann es einfach nich. Kommt nicht ran. Wird nie rankommen.

"Ich bin nur eine Last", ihr Lächeln, während sie die Worte ausspricht, ist tödlich. "Eine Enttäuschung."

Die Kraft lässt nach. Glassplitter in seinem Herzen. Er fühlt sich so erschöpft. Sein Hals schmerzt. Alles ist hoffnungslos.

Abfällig schnaubend wirft sie ihm das Buch vor die Füße.

"Na da haben sich wohl zwei gefunden", spottet sie, dreht sich auf dem Absatz um und verlässt das Klo. Ihr Klo. Ja, ihr Klo. Darum ging es ihr doch irgendwann mal, oder?

Aber es ist nur ein Vorwand.

Moores Knie werden weich, wollen ihn nicht mehr tragen. Er rutscht auf den Boden, starrt das Tagebuch mit glasigen Augen an. Eine Träne fällt darauf. Zwei Tränen.

Die Tür öffnet sich, jemand kommt rein, geht an ihm vorbei.

Sein Schmerz. Niemandes sonst. Nie in seinem Leben hat er sich so elend gefühlt.

Sie wird es all ihren Freunden erzählen und am Ende des Tages wird es die ganze Schule wissen.

Eigentlich bleiben ihm nur noch die Klingen. Sie lässt ihm gar keine Wahl. Das Brennen auf der Haut lenkt ab von dem schwarzen Loch in seiner Seele.

Realität. Blut ist real. Rasierklingen sind real. Realer Schmerz.

Er braucht eine Weile, bis er auf die Beine kommt und seine Sachen zusammen gesammelt hat. Sein ganzer Körper bebt. Seine Augen sind geschwollen.

Moore schaut in den Spiegel - Ever schaut zurück. Ein verheultes Mädchen im Spiegel. Nicht er.

'Dann zerschlag sie', wispert Kane in seinen Gedanken. Zerschlag die Spiegel. Zerschlag Ever.

Er ist nicht Ever. War es nie.

'Chaos', formen seine Lippen.

'Chaos', sagt Moore im Spiegel. Jetzt ist er es. Jetzt. Für einen Wimpernschlag.

'Chaos', spricht Kane in seinem Geist.

Unvermittelt schlägt Moore seinen Kopf gegen den Spiegel, bis das Glas bricht.

Chaos.

Bin im Krankenhaus wieder aufgewacht. Haben meinen Finger eingegipst. Haben mir die letzten Scherbensplitter aus den Füßen gezogen. Haben meinen Kopf und meine Unterarme in Bandagen eingepackt.

Fühle mich isoliert, versunken in meinem Bett. Weiß nicht, wie spät es ist. Weiß nicht, ob ich träume.

Aber mir ist eine neue Strophe für das Gedicht eingefallen. Völlig absurd. Bin bestimmt mit Medikamenten vollgepumt. Hab bestimmt nicht mehr alle Latten am Zaun. Aber gut klingen tut sie allemal:

Zerschlagen wir die Spiegel, du und ich
Verbrennen alle Grenzen
Ich mach's zu unsrer Pflicht
Komm, lass heute Schule schwänzen.

AmokpoesieWo Geschichten leben. Entdecke jetzt