16. Eintrag, Freitag

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Warte vor der Schule auf Kane. Muss erst Montag wieder hin. Fühle mich wie ein Fremdkörper. Ist das auch so, wenn man mit der Schule fertig ist? Gibt es überhaupt ein Leben danach?

Ich glaube, ich will ihn nach dem Gefühl fragen. Dem schnellen, ungeduldige Gefühl, das durch die Leere fegt. Vielleicht kennt er ja die Antworten auf meine Fragen.

Er scheint auf alles Antworten zu haben. Auf die schönen und die hässlichen Dinge.

Zünde mir eine Kippe an, obwohl es verboten ist. Eigentlich rauche ich nicht. Eigentlich.

Schüler strömen an mir vorbei, ohne mich zu sehen. Der Wind ist kühl, aber ich kann atmen. Tief einatmen, ausatmen. Dünne Sonnenstrahlen auf meinem Gesicht. Das erste Mal seit langer Zeit juckt es mich in den Fingern, etwas zu tun.

Ziehe den Rauch tief in meine Lungen. Schmeckt scheiße, aber es beruhigt meine Nerven.

Erkannte Kane sofort, als er aus der Schule kam. Heute trägt er ein Marilyn Manson Shirt unter seiner Armeejacke. Außerdem ist neben dem Peace-Zeichen jetzt ein Anarchie-Zeichen. Er hat gelächelt und sich die Haare aus dem Gesicht gewischt, als er mich bemerkt hat.

"Nichts Besseres zu tun?", hat er gefragt und mir dann die Kippe aus dem Mund gezogen, um selbst einen Zug zu nehmen. Dann hat er wieder gegrinst.

Ich hab mit den Schultern gezuckt. "Nicht wirklich."

"Nicht wirklich", hat er wiederholt, nach meiner bandagierten Hand gegriffen und mich auf die Beine gezogen, einfach so. Ich bin also kein rohes Ei, zumindest nicht für ihn.

"Und jetzt?", habe ich gefragt, weil ich nicht wusste, was ich sonst sagen sollte.

Seine blauen Augen haben auf diese Weise gefunkelt, bei der man weiß, dass er nichts Gutes im Schilde führt.

Sie sitzen wieder auf dem Friedhof, dieses Mal im Kreuzbogen einer alten Kapelle. Immer dann, wenn Kane nicht hinsieht, kritzelt Moore ein paar neue Zeilen ins Tagebuch.

"So kommt die Zeit, wenn ein jeder sich freut", murmelt Kane. "Wenn Schrot befreit, tut's mir nicht leid."

Er dreht einen Bleistift zwischen seinen Fingern, kaut manchmal an dessen Ende herum. Fasziniert beobachtet Moore die Kaubewegungen des kantigen Kiefers.

"Besorg ich mir ne Waffe, damit ich's pünktlich schaffe", fährt er fort. "Uhr tickt, Countdown läuft, Welt fickt, Herz ersäuft."

"Zerschlagen wir die Spiegel, du und ich", flüstert Moore.

"Verbrennen alle Grenzen", schmunzelt Kane und springt dann unvermittelt auf. "Ich mach's zu unsrer Pflicht."

"Komm, lass heute Schule schwänzen", endet Moore.

Kane nickt, balanciert auf der Bank hin und her, leichtfüßig und elegant, als würde er das den ganzen Tag tun.

Moore betrachtet seine langen Beine und beneidet ihn darum, aber genauso beneidet er ihn um seine Sorglosigkeit.

"Ich hab mir was für Lindsay überlegt", sagt Kane dann plötzlich und hockt sich neben ihn. "Was, das weh tut."

Moore starrt ihn an und lässt die Worte in seinem Kopf nachklingen, wie ein Echo, das sich seinen Weg durch den Wald bahnt. Ein Wald voller Gedanken, viel zu viele davon gelten Kane.

"Willst du, dass es weh tut?", seine warme, tiefe Stimme klingt jetzt bitterernst. Da ist kein Schalk mehr, nur noch Tiefe. Ein Angebot, ein Versprechen. Ein Blutsschwur, vielleicht.

Wie viel Schmerz verdient Lindsay, seiner Meinung nach?

Warum obliegt es ihm, Moore, zu entscheiden?

Weil es dein Schmerz ist, denkt er bei sich. Und weil du entscheidest, wie stark dieser Schmerz ist und wie viel davon sie verdient.

"Alles", die Worten fließen über seine Lippen, ohne, dass er es bemerkt, ohne, dass er es verhindern kann.

Nicht die Antwort, auf die Frage, aber Kane versteht. Kevin hätte nicht verstanden. Kane versteht immer.

"Für immer", wispert Moore. Es soll für immer weh tun, soll vernarben, nie vergessen werden, weil der Schmerz sich so anfühlt.

So fühlt es sich an, Seiten aus der Seele gerissen zu bekommen. Ein Nichts zu werden und im Nichts zu versinken. Sie hat es verdient. Sie hat es so lange schon verdient.

"Ich kümmer mich drum", verspricht Kane. "Ratten kriegen Gift."

"Ratten kriegen Gift", wiederholt Moore.

"Hast du mal überlegt, einfach abzuhauen?", will Kane wissen und streckt seine Beine lang auf der Bank aus. "All diese Wichser hinter dir zu lassen?"

"Wohin denn?", will Moore wissen, während sein Blick den Wirbeln von Kanes Locken folgt.

"In die Freiheit."

Freiheit. Was ist schon Freiheit?

"Irgendwann sind wir alle frei", murmelt Kane und schaut hoch zum Himmel, wo abendliches Lila das tägliche Grau verdrängt. Später wird die Schwärze alles Licht fortwaschen. Dann sind sie zwei einsame Seelen in der Dunkelheit der Toten.

Moore wäre gerne frei. Er wäre vieles gerne, wenn er ehrlich ist. Er wäre gerne so groß wie Kane, so losgelöst von allem, so anders, so...

"Freiheit schmeckt wie Wein, glaube ich", meint Kane und lehnt seinen Kopf gegen die kalte Steinwand. "Und nicht diese teure Bonzenscheiße, die du dir nur leisten kannst, wenn du Versace und Chanell trägst, sondern der Billigkram."

Im Halbdunkel der Dämmerung leuchtet sein Feuerzeug auf und zündet eine Zigarette an.

"Freiheit schmeckt wie Kippen und scheiß Billigwein."

"Und riecht nach Schrot und Abgasen", fügt Moore an.

Kanes Mundwinkel zucken und er deutet mit seiner Zigarette auf ihn. "Ganz genau."

Moores Finger fahren immer wieder über den ledernen Einband des Tagebuchs, während er den Rauch dabei beobachtet, wie er in die Luft steigt und sich auflöst.

Es riecht nach Freiheit, hier draußen auf dem Friedhof. Zumindest ein bisschen. Und nach Hoffnung schmeckt es. Gerade genug, um ihn süchtig zu machen.

"Was machst du, wenn du nicht auf dem Friedhof sitzt, Totenpoesie schreibst und zu Satan betest?", will Moore wissen.

"Ich weiß nicht", antwortet Kane und atmet tief ein. "Über den Sinn nachdenken."

"Den Sinn?"

"Ja", er nickt. "Und Ratten töten. Immer Ratten töten."

"Wie definierst du Ratten?"

Kanes blaue Augen fangen seinen Blick ein. "Lindsay ist eine", sagt er. "Und Tyler und Mr. Buler, dieser heuchlerische Vollidiot. Das ganze verfickte System ist voller Ratten. Ratten, die dich klein halten, Ratten, die auf dich scheißen, Ratten, die meinen, sie könnten dich behandeln wie Ungeziefer."

"Dabei sind sie das Ungeziefer", führt Moore den Gedanken fort.

Kane legt den Kopf schief, nimmt seine Kippe und steckt sie Moore in den Mundwinkel. Kurz berührt seine warme Hand Moores Gesicht, hinterlässt ein Prickeln auf seiner Haut.

"Ungeziefer verliert gegen das Chaos", er klingt eindringlich. "Immer."

Und wir beherrschen es.

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⏰ Letzte Aktualisierung: Oct 10, 2020 ⏰

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