Sitzen wieder auf Kanes Dach, hören Musik, philosophieren über das Leben. Zumindest bezeichnet er es so.
Wir schreiben auch das Gedicht weiter. Totenpoesie, nennt er es scherzhaft, weil alles auf dem Friedhof begonnen hat. Vielleicht fällt uns noch n anderer Name ein.
"Was hältst du von Schrot statt Blut?", hat er gefragt.
So kommt die Zeit, wenn Schrot befreit.
Ich weiß nicht, ob er je darüber nachgedacht hat. Er wirkt so lebendig, so echt. Ich kann mir nicht vorstellen, ihn traurig zu sehen.
Nicht völlig hoffnungslos.
Hat er jemals darüber nachgedacht? Über eine Pistole an seiner Schläfe, in seinem Mund? Rasierklingen auf seiner Haut?
Ich hab darüber nachgedacht. Immer, wenn ich im Bett lag und zur Decke starrte, nicht fähig, aufzustehen, nicht fähig, zu essen. Nicht fähig, Gutes zu fühlen. Irgendwas Gutes.
"Moore?", hat er gefragt. Ich mag es, wie er meinen Namen ausspricht. Ganz normal, so wie man Namen eben ausspricht. Nicht übermäßig betont, nicht zweifelnd, nicht so, als fände er ihn lächerlich. Seine Stimme verleiht ihm Bedeutung.
"Ich weiß nicht", flüsterte ich.
"Schrot ist auch ne Freiheit", eröffnete er mir. "Die Freiheit des Nehmens."
Waffen sind die Freiheit des Nehmens. Wenn man leidet, sind sie die Freiheit des Gebens. Wenn man Gedichte schreibt, sind sie gerade poetisch genug und doch reicht kaum etwas anderes an sie heran.
"Ich möchte einfach nur frei sein."
Klingt wie ein Todeswunsch. An schlechten Tagen ist es das vielleicht auch. An diesem Vormittag, die Sonne im Gesicht, ist es eine Bitte ans Leben.
Bitte, lass mich leben.
Mit Kane habe ich dieses Gefühl. Dieses Gefühl, das ich lange nicht hatte. Dieses Gefühl, das den Schmerz erträglich macht.
Hoffnung.
"Lässt du's mich irgendwann lesen?", fragt Kane plötzlich und nippt an seiner Bierflasche.
Moore taucht aus seinen Gedanken auf. Die Welt erscheint gleichzeitig scharf und dumpf.
Würde er das tun? Würde er seine Seele irgendjemandem offen legen?
"Ich weiß, warum Lindsay es nicht lesen darf. Warum keiner es lesen darf", er spricht zum Himmel. Zu den Wolken, die über das ewige Blau ziehen.
Und er spricht zu Moore. Jedes Wort ist eine Frage, direkt an sein Herz gerichtet.
"Ratten verdienen sowas nicht", spricht er voller Überzeugung und klingt wie ein uralter griechischer Philosoph. "Kein Ungeziefer verdient es, einen Menschen so zu sehen, wie er ist. Sein Innerstes. Die Essenz eines Gottes."
"Eines Gottes", wiederholt Moore.
Kanes Mundwinkel zucken und er nimmt noch einen Schluck Bier.
"Sie alle sind Ratten", nickt er. "Nur wir zwei, wir sind Götter."
Götter. Das Wort klingt wunderschön aus seinem Mund, unterlegt mit seinem warmen Timbre, einfach unendlich. Es klingt, als wären sie unverwundbar, unsterblich, stark.
"Götter", haucht er.
"Du kannst sie schlagen, weißt du?", eindringlich sieht Kane ihn an. "Lindsay und Tyler und all die anderen Idioten. Du bist stärker als das."
"Götter", formen Moores Lippen.
"Götter des Chaos", grinst Kane. "Wir gewinnen."
Wenn er bei Kane ist, scheint alles möglich zu sein. Dann rücken Lindsay und Tyler und der Albtraum, den er jeden Tag in der Schule erlebt, in den Hintergrund. Dann fühlt er sich tatsächlich einen Moment lang, als könnte er sie schlagen.
Aber er kann es nicht. So sehr er es sich wünscht. Er hat nicht die Kraft dafür. Kane hat sie. Alles scheint an ihm abzuprallen, die Welt ist für ihn unendlich.
Er wäre gerne so. So groß, so unverwundbar, so sorglos. Kane lebt den Traum.
"Eines Tages sehen sie uns an und sehen die Götter", verspricht er. "Dann bitten die Ratten um Gnade und wir sind das jüngste Gericht."
Es spricht so viel Leidenschaft aus Kanes Worten. So viel Vertrauen darin, dass sie wahr werden, eines Tages. Das Versprechen, dass die Zukunft besser und gerechter wird.
"Dann hast du alle Spiegel für immer zerschlagen", Kanes himmelblaue Augen starren direkt in Moores Seele.
Eigentlich muss er das Tagebuch gar nicht lesen. Moore hat das Gefühl, er kennt jetzt schon jedes Geheimnis, jeden Schmerz, jede Sorge, jeden Funken Wut. Niemand hat ihn je besser gekannt als Kane.
"Chaos", spricht er lautlos das eine allmächtige Wort. Sein Gebet, sein Mantra, seine Hoffnung.
"Ich finde, wir sollten Lindsay ihre Grenzen zeigen", schlägt Kane vor und streicht sich die hübschen blonden Locken aus der Stirn. Lässig kramt er eine Kippe aus seiner Tasche und zündet sie an. Moore könnte ihn ewig betrachten.
"Oder du", korrigiert er sich und nimmt den ersten Zug. "Immerhin hat sie dein Selbst aufgerissen."
Moore legt die Stirn in Falten. Ihr Grenzen aufzeigen. Es ihr heimzahlen. Sich wehren. Das hat er nie getan. Dafür hatte er nie die Stärke. Er hat es erduldet, sein ganzes Leben lang.
Er hat Ever ertragen. Er hat die Schreie und Beschimpfungen seiner Mutter ertragen, als er sich die Haare abgeschnitten hat. Die beschissenen langen Haare. Er hat Tylers große raue Hände ertragen, die sich ihren Weg unter seinen Hoodie bahnten.
Augen zusammengekniffen, an das große Nichts gedacht. Genug Konzentration und er fühlt es nicht.
Fühlt die Übelkeit nicht, fühlt die Scham nicht.
Er hat Lindsay und ihre Gehässigkeit ertragen. Er hat ertragen, wie seine Mitschüler ihn 'Freak' nannten, 'Mädchen', 'Weirdo', 'Lesbe', 'Transe'.
Er hat es geschehen lassen. Immer hingenommen, immer eingesteckt.
Er weiß nicht, wie es sich anfühlt, zurückzuschlagen. Er weiß nicht, wie es funktioniert.
Er kennt nur seinen Selbsthass.
"Ich weiß nicht", nuschelt er und starrt auf den Boden.
"Ich überleg mir was", kommt es ganz beiläufig von Kane. Schulterzuckend. Alltagssache.
Er hat diese Art von Erniedrigung nie erfahren müssen. Kane hält sich zurück, beobachtet, sticht raus, wenn er will oder verschmilzt mit der Masse.
Für Moore hat er immer rausgestochen. War anders, irgendwie. Kane hat ihn nie beschimpft, hat sich nie über ihn lustig gemacht.
Irgendwie waren sie beide auf ihre Weise unsichtbar, doch sichtbar. Wenn man nur hinsieht. Moore muss endlich hinsehen. Muss Lindsay ansehen, muss dem Blick standhalten.
"Hast du schonmal daran gedacht, dich umzubringen?", spricht Moore den Gedanken aus, der schon die ganze Zeit durch seinen Kopf schwirrt.
Ein Teil von ihm würde Lindsay lieber glauben, sich hinlegen und sterben. Dann wäre es zumindest vorbei. Endlich. Endlich vorbei.
"Sterben is was für Tote", wiederholt Kane die Worte vom Friedhof. "Wir sind Götter."
Götter des Chaos.
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Amokpoesie
Fiksi UmumWir gehen jetzt mal morden, du und ich. Denn alle hier sind Ratten, nur wir zwei Wir sind Götter. Komm, schieß die Schüler nieder Und alle Lehrer tot. Moore zeichnet Spiegel - Kane zerschlägt sie. (Vorab: Ich will Amokläufe nicht verherrlichen. Die...