12. Eintrag, Montag

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Saßen bis Sonnenaufgang auf dem Dach von Kanes Haus. Ist n schönes Haus. Hat n schönes Dach. Über uns ist der Himmel unendlich, die Sonne blutet ins Schwarz der Nacht.

Kane hat mir Kekse gereicht und ne Flasche Wodka und gesagt 'Das ist der Moment'. Aber welcher Moment?

Der Alkohol hat in meinem Hals gebrannt. Die Kekse haben nach Hafer geschmeckt. 'Der Moment' war warm und kalt und gut.

Ich verstehe ihn nicht ganz 'den Moment', aber er war ein Moment der Freundschaft. Stumme Freundschaft zwischen Kane und mir.

"Ich hab an dich gedacht", habe ich zugegeben. Kane hat nur geschmunzelt.

"Und über das, was du gesagt hast."

"Was hab ich denn gesagt?"

"Du hast von Ratten geredet. Und von Ungeziefer."

Ich verstehe den Vergleich jetzt. Oder ist es doch eine Metapher?

"Lindsay hat meine Seele genommen und auseinander gerissen", wisperte ich.

Ich kann noch fühlen, wie mein Papier-Herz entzwei reißt. Wie jede Faser nachgibt, als das Fleisch auseinander gezogen wird. Blut tropft durch meine Seele. Ein Filter. Schmerz kommt an. Oder Leere.

"Lindsay ist eine Ratte", meinte Kane und zündete sich eine Kippe an. "Ne miese, kleine Ratte, die viel zu große Stücke auf sich hält."

Er zog einmal an der Zigarette und setzte dann die Wodkaflasche an die Lippen.

"Ratten muss man zeigen, wo ihr Platz ist."

Ich hab genickt, nach der Flasche gegriffen und auch nen Schluck genommen. Schmeckt scheiße das Zeug. Ist egal. Betäubt das große Nichts.

Kane hat mir dann auch ne Kippe angezündet. Ich rauche eigentlich nicht. Finde, die Teile stinken. Aber jetzt rauche ich schon, irgendwie. Beruhigt die Nerven. Stopft die Blutung in meinem Inneren.

"Willst du's ihr heimzahlen?", so, wie er fragte, klang es ganz harmlos und nebensächlich. Und verdammt, ich wollte es ihr heimzahlen. Will ich immer noch.

Mit keinem beschissenen Recht hat sie meine tiefsten Gefühle aus dem Tagebuch gerissen.

"Ja", murmelte ich.

Bei Sonnenaufgang sieht der Himmel ganz surreal aus. Mehr wie ein Gemälde der Hölle oder das letzte Erleuchten in der Apokalypse, wenn sich ein Atompilz am Horizont abzeichnet. Totale Zerstörung, helles Licht, dann ewige Dunkelheit.

Und Frieden.

"Ich finde, wir sollten an dem Gedicht weiterschreiben", schlug er dann unvermittelt vor. Er klingt anders, wenn er über das Gedicht redet. Es scheint ihm wirklich etwas zu bedeuten, ist nicht nur Jux und Spaß.

Kane ist ein Künstler, ein Poet. Und seine Kunst ist es, dass er auch schweigend poetisch sein kann.

"Lass uns reingehen", schwungvoll zieht Kane ihn auf die Beine und schnippt die Kippe vom Dach. Die halbleere Wodkaflasche lässt er an Ort und Stelle liegen.

"Ich mach Frühstück", fügt er dann an, als Moore sich nicht von der Stelle rührt.

"Musst du nicht in die Schule?", fragt er vorsichtig.

Kane macht eine wegwerfende Handbewegung: "Ach fick doch die Schule."

Dann klettern sie durch das Dachfenster wieder nach drinnen.

Moore findet Kanes Heim etwas befremdlich. Alles ist so ordentlich, so punktgenau und minimalistisch. Es passt überhaupt nicht zu Kane, er wirkt wie ein Fremdkörper darin.

"Dad!", ruft Kane durch den dunklen Flur. "Bist du da?"

Keine Antwort.

Schulterzuckend führt Kane ihn in die ebenfalls fein säuberlich aufgeräumte Küche.

"Dad ist nicht da", eröffnet Kane ihm dann. Moore hat keine Ahnung, woran er das festmachen kann, aber es wird schon stimmen.

"Ich kann Pancakes machen, wenn du willst."

Gedankenverloren betrachtet Moore die weißen Wände der Küche. Nicht ein Bild, nicht eine Dekoration. Zwei weiße Kaffeetassen stehen symmetrisch angeordnet neben der Maschine. In einem der oberen Regale steht ein kompaktes, beigefarbenes Radio.

Alles wirkt leer, als würde eigentlich niemand im Haus wohnen.

"Sind dir noch Verse eingefallen?", fragt Kane, während er eine Pfanne aus einer der unteren Schubladen holt.

"Zerschlagen wir die Spiegel, du und ich", murmelt Moore und setzt sich zögerlich an den grauen Esstisch. Alles glatt, ohne Textur, ohne Charakter. So überhaupt nicht wie Kane.

"Verbrennen alle Grenzen", fährt er fort. "Ich mach's zu unsrer Pflicht
Komm, lass heute Schule schwänzen."

"Das ist gut", nickt Kane und dreht die Herdplatte auf. "Sehr gut."

Geschickt wirft er die Zutaten in eine Schüssel und beginnt, umzurühren. Er scheint das oft zu machen.

"Was machen wir also mit Lindsay?", er sieht Moore nicht an, aber die Worte klingen so eindringlich, als würde er es. Es ist die Frage nach mehr. Die Frage, wie weit er gehen würde.

Moore tippt nervös auf der Tischplatte herum, klammert sich an ihr fest, sodass seine Knöchel weiß hervortreten. Diese beschissenen knubbeligen Knöchel.

"Weiß nicht."

Es zischt, als Kane den Teig in die Pfanne gibt.

"Hmm", macht Kane.

Stille. Moore denkt an Lindsay mit ihrem höhnischen Lächeln, an Lindsay, die das Tagebuch gerade so hoch hält, dass er es nie erreichen kann. Er reicht nie heran. Nicht in seinen Träumen, nicht im Leben.

Es ist nie genug.

"Hast du mal Clockwork Orange gesehen?", will Kane wissen, als er den Pfannkuchen umdreht.

"Nein", sagt Moor, stützt sich auf seine Ellenbogen und beobachtet, wie Kane mit geübten Bewegungen die Pancakes zubereitet. Seine Locken fallen ihm dabei immer wieder ins Gesicht, sodass er sie fortwischen muss. Ganz beiläufig steckt er sich eine Kippe in den Mundwinkel, zündet sie aber nicht an. Dann sieht Kane zu ihm.

Ertappt wendet er sich ab.

"Es geht um die Freiheit, zu entscheiden", erklärt Kane und klaubt ein Feuerzeug aus seiner Hosentasche. Anstatt die Zigarette anzuzünden, wirft er es jedoch ihm zu.

Moore fängt und runzelt die Stirn. Was wohl in Kanes Kopf vorgeht? Er kann es nicht sagen, egal, wie sehr er versucht, dahinter zu kommen. Kane scheint alles zu sagen und doch gar nichts.

"Entscheidungen sind die größte Freiheit, die wir haben", meint Kane und wendet wieder einen Pancake. So viel Überzeugung spricht aus seiner Stimme, so viel Begeisterung.

"Und es geht um den Staat, um das System, das dem Individuum diese Freiheit nimmt", fährt er fort, hebt den Pfannkuchen aus der Pfanne und auf einen Teller. Dann geht er um die Theke herum und stützt sich direkt vor Moore auf den Tisch.

"Manche Sachen erscheinen vielleicht nicht richtig, aber es ist unsere Freiheit, uns dafür zu entscheiden."

Kane spricht Dinge aus, die sonst niemand ausspricht. Misst ihnen Wahrheit und Bedeutung zu. Macht sie wichtig.

"Also, was machen wir mit Lindsay?", grinst er und bedeutet ihm, die Zigarette anzuzünden.

Moore droht in diesen blauen Augen zu versinken. Das Rädchen dreht sich, eine Flamme entsteht, die Kippe glüht.

Das war also meine Freiheit und meine Entscheidung.

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