15. Eintrag, Donnerstag

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Irgendwas ist anders. Ich weiß, dass ich Kevin nicht mehr sehen werde. Keine Ahnung, warum, es ist einfach so. Als hätte ich einen Faden durchgeschnitten. Einen dünnen, der eh bald gerissen wäre.

Seltsamerweise fühle ich mich leichter. In meiner Brust, in meinen Lungen. Ich kann atmen.

Ich erinnere mich daran, wie Kevin, ein Senior an der High School, mich verteidigt hat, als Tyler und seine Kumpanen mich wieder verprügeln wollten.

Und ich erinnere mich an den Tag, an dem er es nicht mehr tat, weil er seinen Abschluss hatte.

Keiner mehr, der mich beschützt. Nur Tyler, Jack und Scott, die es auf mich abgesehen hatten, weil ich klein, schwach und wehrlos war. Ist heute noch so. So war es immer.

Ich war immer die Beute.

Habe ertragen, dass Scott mich anspuckt, habe ertragen, dass Jack mich verprügelt. Habe Tylers Hände ertragen, kalt vom Januarwind, rau vom Footballspielen, wie sie unter meinen Hoodie gleiten.

Immer wieder.

Diese kalten Hände auf meinen Oberschenkeln.

"Du willst also n Kerl sein?"

Kevin war nicht da. Ich habe oft die Lücke angestarrt, die er hinterlassen hat. Immer dann, wenn ich es nicht mehr ertragen konnte. Aber die Lücke war genauso machtlos wie ich, hat sich um mich gelegt, mich erstickt, immer dann, wenn ich Tylers schwere Schritte gehört habe, seine Stimme, die über dumme Witze lacht.

Ich will Kevin nicht die Schuld geben. Ich bin dankbar für alles, was er getan hat. Ich wünschte, ich hätte die Stärke besessen, es selbst zu tun.

Aber ich ersticke nicht mehr. Ich liege im Koma und werde beatmet. Kane ist Sauerstoff. Kane ist die Essenz, die Lösung.

Ich muss aufwachen. Ausbrechen. Die Lücke füllen.

Kane ist Sauerstoff. Er ist niemand, der mir sein Mitleid bekundet, der mir sagt, ich soll zum Psychodoc gehen, dann wird das schon.

Du schaffst das.

Nein, Kane ist da und beherrscht das Chaos.

Mit zitternden Fingern setzt er den Stift ab. Er hat das Gefühl, einen Abschiedsbrief verfasst zu haben. An Kevin und an die Nachmittage in der Middle School, an denen er sich in Abstellkammern und unter Tischen verkrochen hat, damit Tyler und seine Gang ihn nicht finden.

Er will nicht mehr dieses verängstigte Kind sein. Er weiß, er ist es noch, aber er ist es leid. Er ist die Taubheit leid und den Schmerz und die Angst, jeden Tag, bevor er die Schule betritt.

Es liegt keine Poesie in Furcht, nur bittere Wahrheit. Es steckt auch kein tieferer Sinn dahinter.

Irgendjemand wird immer gefressen.

Moore schüttelt den Kopf, klappt das Tagebuch zu und schiebt es zu Seite. Der Himmel draußen ist grau. Vereinzelte rotbraune Blätter tanzen durch die Luft. Er will etwas tun, aber sein Körper ist starr. Seine bandagierten Hände und Füße pochen dumpf.

Vor ihm liegt die Zeichnung von Kanes Gesicht, ganz scharf mit schnellen Strichen skizziert. Unstetigkeit und Bewegung einfangend. Ja, etwas bewegt sich. Etwas.

Seine Finger fahren die Linien der blonden Locken auf dem rauen Papier nach und er fragt sich, wie sich die Textur wohl tatsächlich anfühlt. Glatt oder weich oder kratzig wie Wollpullover. Die blauen Augen schauen zu ihm auf.

"Götter", flüstert er so leise, dass es genauso gut nur in seinem Kopf sein könnte.

Die Unstetigkeit der Zeichnung ist auf ihn übergegangen, verwirbelt seine Gedanken, lässt seinen Körper zittern.

So hat Moore sich noch nie gefühlt.

Als die Tür geöffnet wird, schreckt er so sehr zusammen, dass er vom Stuhl rutscht.

"Essen", brummt Alicia. Ihre Stimme ist jetzt anders, wenn sie mit ihm spricht. Dünner. Vorsichtiger.

Wortlos steht er auf und geht an ihr vorbei in die Küche. Es gibt Makkaroni mit Käse. Seine Mutter sitzt mit leerem Blick auf dem Stuhl bei der Tür, Rodney daneben bindet sich gerade seinen Gürtel um den Oberarm.

Abgefuckte Scheiße, das alles. Moore schüttelt den Kopf.

"Gib mal Bier rüber", befiehlt Rodney, als Moore sich Nudeln auf einen Teller füllt. Wortlos reicht er die Flasche weiter. Irgendwas in ihm verlangt danach, sie auf dem Boden in tausende Scherben zersplittern zu sehen.

Aus dem Augenwinkel registriert er, wie Alicia am anderen Ende des Tisches Platz nimmt und überall hinsieht, nur nicht zu ihm. Drückendes Schweigen beherrscht den Raum.

"Meinst du eigentlich, wir reden noch mal darüber, dass du deinen Kopf gegen nen verfluchten Spiegel geschlagen hast?", will Rodney nach ner Weile wissen, während er Heroin auf einem Löffel erhitzt.

Moore kann nicht anders, als zu lachen. Ganz leise nur, sodass sein Oberkörper bebt.

Mit zitternden Händen stellt er Alicia und sich einen Teller hin und setzt sich dann Rod gegenüber.

Er starrt ihn an. Er wagt es, ihn anzustarren. Er zuckt nicht zurück, zieht nicht den Kopf ein, verkriecht sich nicht in der Abstellkammer.

"Nein", sagt Moore leise, aber bestimmt.

Nein, er wird nicht über den Spiegel reden. Keiner von ihnen würde es verstehen. Keiner von ihnen würde es verstehen wollen. Dazu sind sie alle viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt, mit den widerlichen, dreckigen kleinen Welten, in denen sie leben.

Rod, der sich einen beschissenen Schuss am Esstisch setzt. Seine Mutter, die ins Nichts starrt. Alicia, die ihn nicht mehr ansehen kann.

Warum sollte er ihnen irgendeine Art von Erklärung schulden? Es hat doch bisher auch niemanden gekümmert.

"Wenn du meinst", nuschelt Rodney, das eine Ende des Gürtels im Mund, die Spritze in seiner Armbeuge ansetzend.

Das ist das eigentliche Chaos. Das wahre, das reale Chaos. Das Chaos, das ihn geboren hat.

"Warum sind deine Haare kurz, Ever?", fragt seine Mutter und sieht ihn an, durch ihn hindurch. Sie sieht nur die Erinnerung.

"Moore", sagt er.

Sie ist ihm inzwischen genauso egal, wie er ihr egal ist. Er braucht sie nicht. Ohnehin hat sie nie etwas getan. Und hätte er die Wahl, dann würde er sich von ihr verabschieden, genau wie von Kevin.

"Etwas ist anders", bemerkt Alicia.

Ja, etwas ist anders. Er kann es nicht beschreiben, aber es ist ein Gefühl, ein neues Gefühl. Wüsste er es nicht besser, hätte er es Hoffnung genannt. Aber er weiß, wie sich Hoffnung anfühlt. Immer dann, wenn er bei Kane ist und zum Himmel schaut und alles unendlich ist. Das hier ist anders.

Schneller, wütender. Tausende Scherben, die in Zeitlupe über den Boden springen und sich durch seine Seele nach außen bohren.

Kane würde es wohl Kampfgeist nennen.

Oder vielleicht erkenne ich, dass wir Götter sind.

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