8. Eintrag, Sonntag

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Sitze auf den Stufen vor unserem Haus. Nebenan bellt Mr. Roberts Köter. Auf der anderen Straßenseite höre ich unsere Nachbarn streiten.

Der Himmel ist grau. Nebel hat sich wie n Schleicher über alles gelegt. Vielleicht regnet es bald. Vielleicht auch nicht.

Alicia spricht nicht mehr mit mir. Vielleicht hat sie Angst. Vielleicht hat sie es endlich verstanden. Egal, was es ist, es ist befreiend. Am liebsten würde ich nie mehr auch nur ein Wort aus ihrem Mund hören.

Rodney hat gesagt, ich soll aufhören, Schule zu schwänzen. Hab ihm gesagt, er kann mich mal. Hat mir wieder Drogen angeboten. Hab abgelehnt.

Ich glaube, irgendwann sage ich ja. Ich weiß nicht, unter welchen Umständen, aber ich habe das Gefühl. Das Kribbeln in den Fingerspitzen. Das Bedürfnis, irgendwas anderes zu fühlen, als Taubheit und Schnitte auf meiner Haut.

Ein bisschen ist es das, was ich gefühlt habe, als Kane und ich auf der Bank gesessen und über Poesie geredet haben.

'Poesie sind die Worte deiner Seele', hat er gesagt. 'Wenn du versuchst, sie auszusprechen, verlieren sie ihre Wirkung.'

Wie ein Geburtstagswunsch.

Ich weiß noch, als ich fünf wurde, habe ich mir gewünscht, einen anderen Körper zu haben. Ich bin am nächsten Tag aufgewacht und nichts war passiert.

War am Boden zerstört. War der erste Moment, in dem der Glauben, den man als Kind hat, bröckelte.

Ich hatte den gleichen Wunsch, jedes Jahr. Nichts passiert.

Kam nur irgendwann die Leere dazu. Die Abneigung, wenn ich in den Spiegel sehe und Ever sehe. Ever, das Mädchen. Aber ich bin nicht Ever. War ich nie.

"Dann zerschlag sie, Moore."

Nicht die Spiegel. Die Person. Ever, die ich nie war. Zerschlag Ever.

Splitterndes Glas. Ich glaube, ich muss viel mehr zerschlagen. Aber mir fehlt die Kraft. Ich bin so müde. Wandle durch den immer gleichen Traum, jeden Tag. Kann nichts tun.

Schlafparalyse. Starre. Kein Ausweg.

Totenpoesie war's wirklich.

Meine Hände tun noch weh und ich sehe, wie ich Alicia schlage und frage mich, ob es mir leid tun sollte. Ihr hat es nie leid getan.

"Worüber denkst du nach?"

Kane steht vor ihm auf dem Fußweg, die gleiche verwaschen Armeejacke, darunter ein Nirvana-Shirt. Seine blonden Locken sind wirr und er schenkt ihm ein Lächeln.

Diese Augen. Ewiges Eis. Sommerhimmel. Tiefes Meer. Alles gleichzeitig.

"Poesie", antwortet Moore.

Kane setzt sich zu ihm auf die Stufe. Moore kann sich nicht erinnern, ihm gesagt zu haben, wo er wohnt. Aber über jener Nacht hängt Nebel so wie über den Häuserdächern.

"Poesie ist immer gut", kommentiert Kane.

Moore starrt ihn an. Er hat tausend Fragen und doch nur eine.

"Was machst du hier?"

"Ist Sonntag", Kane zuckt mit den Schultern. "Kirche und so."

Moore hebt eine Augenbraue. Genauso wie Kane nicht aussieht wie jemand, der schreibt, sieht er auch nicht aus wie jemand, der in die Kirche geht.

"Ich dachte, du betest nachts auf dem Friedhof zu Satan", murmelt er.

Kane lacht. Dieses schöne, sorglose Lachen.

Ja, wenn er wollte, dann könnte er einen ganzen Haufen Freunde haben, die dieses schöne Lachen begierig aufsaugen. Aber er bleibt allein, die ganze Zeit. Warum?

"Okay, war Schwachsinn", gibt er zu. "Geh nicht in die Kirche. Das heißt, außer mein Alter zwingt mich."

Kane sieht anders aus, wenn er über seinen Vater spricht. Kühler. Moore seufzt tief.

"Mein Vater ist vor Ewigkeiten abgehauen", sagt er leise. "Jetzt ist da Rod."

"Und wie ist der so?"

"Vertickt Drogen."

"Geiler Scheiß."

Sie starren sich an.

"Was du über Ungeziefer gesagt hast...", beginnt Moore.

"Ja?"

"Woran erkennt man das?", will er wissen. Vielleicht ist es Schuld. Vielleicht will er sich auch einfach nicht schuldig fühlen.

"Du merkst es, wenn sie's verdient haben", meint Kane. "Merkt man immer."

Alicia hatte es verdient.

"Hab meine Schwester geschlagen", flüstert Moore. Es fühlt sich komisch an, das auszusprechen. Damit misst er der Sache mehr Bedeutung bei, als ihr zusteht.

Andererseits hätte er nie damit gerechnet.

"Machen alle Brüder", sagt Kane.

Moore spürt, wie eine Nadel aus seinem Herzen gezogen wird. Etwas flattert. Ein Vogel. Eine Taube. Fühlt sich gut an, auf eine seltsame Weise.

"Was ist das jetzt mit uns?", fragt Moore vorsichtig. Er hat Angst, es zu zerstören. Er hat Angst, dass am Ende doch nur alles Lüge war.

Wieder zuckt Kane mit den Schultern.

"Ein Club der Dichter", grinst Kane. "Eine Liga der Verlorenen. Ein Verein der Friedhofswanderer."

Jedes Wort, das Kane spricht, hat einen Klang von Faszination an sich. Moore hat niemanden je so sprechen gehört.

"Mir ist ne neue Zeile eingefallen", sagt er.

"Lass hören", sagt Kane.

"So kommt die Zeit, wenn ein jeder sich freut. Wenn Blut befreit."

"Tut's mir nicht leid", Kanes Grinsen wird breiter. "Das ist es fast, glaube ich."

Fast. Unvollkommen. Nicht gut. Natürlich nicht gut. Es kommt von ihm.

"Du tust es schon wieder", stellt Kane missmutig fest.

"Was?"

"Dich kleiner machen, als du bist", erklärt er, steht auf und zieht auch Moore auf die Füße. "Ich hab's dir gesagt. Hör nicht auf die Scheiße, die die Ratten sagen. Lass das Gift nicht in deinen Körper. Zerschlag die Spiegel."

"Zerschlag die Spiegel", wiederholt er.

Alle Spiegel.

Kane legt ihm eine Hand auf die Schulter. "Unsere Zeit kommt. Irgendwann."

"Irgendwann", wiederholt Moore betrübt.

"Ja", nickt Kane. "Irgendwann ist die nächste Zeitangabe zwischen jetzt und nie."

Als er Kane gezeichnet hat, hätte er nie gedacht, dass da so viel Abgrund hinter den blauen Augen liegt. Viel mehr Seele als alle anderen. Mit Kane fühlt er sich gut. Anders. Mehr wie er selbst.

"Was willst du von mir?", Moore fühlt sich wieder, als würde er gleich heulen. Seit ihrem ersten Treffen auf dem Friedhof ist viel passiert.

"Ich will, dass wir Freunde sind", Kanes Stimme klingt eindringlich. Klingt nach Wahrheit.

"Warum?"

Moore meint die Frage ernst. Seit Kevin hatte er keine Freunde. Er war viel zu sehr damit beschäftigt, sich vor der Welt zu verstecken und die Welt damit, ihn zu hassen.

"Außenseiter müssen doch zusammenhalten", Kanes Mundwinkel zucken.

Es ist keine wirkliche Erklärung. Warum jetzt? Warum so? Warum überhaupt? Vielmehr ist es ein Eingeständnis. Sie sind der Müll am Straßenrand.

"Was immer du tust, die Ratten ham's verdient", spricht Kane mit fester Stimme und sieht ihn direkt an. "Duck dich nicht mehr weg. Nie wieder. Das ist Bullshit."

Aber Moore kennt nichts anderes als Wegducken.

Kane ist womöglich der weiseste Mensch, den ich je kennengelernt habe.

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