10. Eintrag, Dienstag

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Zwischen Schlaf und Medikamenten erinnere ich mich nicht an viel. Alicia war einmal da, glaub ich. Und Kevin ist es die ganze Zeit.

Er sitzt neben meinem Bett und pennt. Hat vermutlich seine Arbeit hierfür sausen lassen. Hätte er nicht machen müssen, aber irgendwie bin ich ihm auch dankbar. Ich kann nicht mehr allein sein.

Ich hoffe, die entlassen mich zeitig. Wir können uns die Krankenhausrechnung eh nicht leisten.

Mein Finger juckt unter dem Gips. Spüre die Schnitte in meinen Armen. Ich hab auch Kopfschmerzen, aber das kommt wohl davon, wenn man seinen Kopf gegen einen Spiegel schlägt.

Ich hab gemacht, was Kane gesagt hat.

Ein Arzt war auch immer wieder da. Und Schwestern, die mich am Arm getätschelt haben.

Einmal kam auch ne Psychotante. Oder vielleicht hab ich's nur geträumt. Noch dreht sich alles. Noch ist nichts echt.

Nur Lindsays Gelächter, als sie mich Stück für Stück auseinanderreißt.

Wer das Buch wohl hergebracht hat?

Jedenfalls heißt die Psychologin Dr. Garner.

"Ever", hat sie zu mir gesagt und ich hätte meinen Kopf am liebsten nochmal gegen den Spiegel geschlagen.

"Moore", habe ich sie korrigiert.

"Ich möchte wissen, wie es zu den Schnitten an deinen Armen gekommen ist."

"Rasierklingen."

Da hat sie die Lippen geschürzt und ihre Brille zurechtgerückt. Und ich hätte am liebsten gelacht.

Bin doch krank im Kopf.

Warum ich mich selbst verletze, wollte sie dann wissen.

Damit ich etwas fühle. Mehr als die Taubheit. Mehr als die Dämonen in mir drin. Etwas, das man sehen und anfassen, an dem man festhalten kann.

Ob ich schon mal in Therapie war.

Nein.

Ob ich es nicht mal versuchen wolle.

Kein Geld.

Es gibt Programme, weißt du?

Ich glaube, selbst, wenn ich es versuchen würde, ich könnte nicht darüber sprechen. Wenn man es ausspricht, dann wird es plötzlich ein reales Problem. Es kann mich nicht mehr nur in meinem Kopf verzehren, sondern lauert in der echten Welt.

Konfrontation. Ich bin nicht gut in Konfrontation. Ich habe eine Heidenangst davor. Davor und dass ich das Gefecht verliere, weil ich immer verliere.

"Du bist wach", nuschelt Kevin rechts von ihm. Moore nickt stumm.

"Mein Kopf brummt", er versucht gar nicht erst, zu lächeln, aber ein Witz scheint in dieser Situation angemessen.

"Was gibst du dem Spiegel auch ne Kopfnuss?", Kevin schnaubt und stützt sich auf eine Hand.

"Warum bist du hier?", fragt er leise.

"Irgendwer sollte hier sein", murmelt Kevin. "Dachte, du hast versucht, dich umzubringen."

Er klingt besorgt. Moore hat ihn noch nie so besorgt erlebt. Normalerweise lässt Kevin das Leben auf sich zukommen, aber jetzt liegt dieser Ernst in seiner Stimme. Jetzt ist es kein Geplänkel mehr.

"War Kane hier?", erkundigt sich Moore.

"Wer ist Kane?"

"Ist egal."

Eigentlich ist es nicht egal. Und er kann nicht verleugnen, dass es weh tut, dass Kane nicht da war. Aber wie kann er das auch erwarten? Sie kennen sich erst eine Woche.

Vielleicht glaubt er, er schafft das schon. Schafft das allein. Ja, das muss es sein. Er hat den Spiegel zerschlagen. Er hat gewonnen.

Warum fühlt es sich nicht so an?

"Ist nicht egal", Kevin fährt sich durch die blondierten Haare. Er sieht fertig aus, fast so fertig, wie Moore sich fühlt. Fast spürt er die Glassplitter in seiner Stirn. Phantomglassplitter.

"Warum hast du das gemacht, Moore?"

Ja, warum? Das hat die Psychotante auch gefragt. Eigentlich gab es darauf eine Antwort, aber er findet sie nicht. Warum den Spiegel zerschlagen? Mit dem Kopf gegen die Wand.

Weil es sich gut anfühlt? Ja, vielleicht, für den Moment. Auf Kollisionskurs mit der Realität. Einmal nicht beherrscht von Schmerz, sondern von Wut. Oder vielleicht ist das ein und dasselbe. Vielleicht entpuppt sich die Wut aus dem Schmerz wie ein Schmetterling, der aus dem Kokon klettert.

Keine Antwort, die er sich überlegt, klingt zufriedenstellend.

"Sowas hast du noch nie gemacht, Moore", wieder diese Sorge in Kevins Augen. Diese Angst vor der Unvorhersehbarkeit.

Moore hat sich nie unvorhersehbar gefühlt. Es fühlt sich gut an. Er kann es nicht definieren, aber womöglich würde es verfliegen, wenn er es täte.

Ever ist komatös.

"Du musst dir endlich Hilfe holen."

Er kann diesen Ratschlag nicht mehr hören. Weder zwischen leichten Unterhaltungen über das Wetter, noch in einer Situation wie dieser. Er kann den Schmerz nicht aussprechen.

"Ich will nach Hause", flüstert er.

Noch während er die Worte ausspricht, wird ihm klar, dass er nicht das Haus meint, in dem er lebt. Nein. Eher meint er den Friedhof und den Grabstein von Madeleine Roosevelt, auf dem er sitzt und den Mond betrachtet. Auf dem er Kanes Stimme hört.

Tatsächlich könnte er überall sein, wenn er nur Kanes Stimme hört.

'Chaos', formen seine Lippen.

Es ist Seelenbalsam, irgendwie. Chaos. Ein Mantra. Ein Pflaster. Eine Sicherheit.

Er will wieder auf der Bank sitzen, Rauch in seinen Lungen, Poesie auf den Lippen. Das ist Zuhause. Das wäre ein gutes Jetzt und ein gutes Immer.

'Zerschlagen wir die Spiegel, du und ich.'

Er schüttelt den Kopf und bereut es sofort. Das Bild vor seinen Augen flackert. Er sieht Kevin an und wünscht, es wäre Kane.

Kane hätte ein Knie angezogen, würde sich darauf stützen, der andere Fuß würde auf dem Boden im Takt lautloser Musik wippen. Diese unendlich tiefen blauen Augen würden ihn ansehen und er würde nicht schlau aus ihnen werden.

Dann würde Kane wieder etwas über Spiegel sagen. Oder Ratten.

Kevin hingegen sieht einfach nur müde aus. Er reicht nicht tief genug, um zu verstehen. Nur diese oberflächliche Sorge. Moore, der arme Moore, der das Leben nicht erträgt und seinen Kopf gegen den Spiegel schlägt.

Er ist ihm dankbar, dass er da ist. Trotzdem scheint etwas zu fehlen.

"Das wird wohl noch ne Weile dauern", hört er Kevins Stimme dumpf sagen. Vor seinen Augen verschwimmt das Gesicht zu Kanes, dann wieder zu Kevin.

"Versprich mir, dass du dir Hilfe suchst, Moore."

Bin wohl wirklich verrückt. Oder vielleicht treibe ich auch nur zwischen Realität und Illusion.

Etwas ist anders, seit mein Kopf auf den Spiegel traf. Durchbrechen der Schranken. Grenzen verbrannt. Alles voller Schmerzen und trotzdem will ich aufstehen und etwas tun.

Rennen. Nicht wegrennen, aber irgendwo hin. Es gibt ein Ziel. Es muss eins geben.

AmokpoesieWo Geschichten leben. Entdecke jetzt