1. Eintrag, Sonntag

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Gehe auf den Friedhof, weil Mom wieder einen ihrer Anfälle hat.

Die Straßelaterne links an der alten Eiche auf der Manson Road ist schrott.

Hab meine Jacke vergessen, meine Finger werden taub.

Luft ist kalt und schmeckt nach Dunkelheit. Sterne sind viel zu grau.

Irgendwie hört man immer und zu jeder Zeit diesen beschissenen Verkehrslärm, obwohl das hier ne scheiß Kleinstadt ist. Aber wer weiß, vielleicht bilde ich mir das auch einfach nur ein.

Mache immer wieder Halt, um hier reinzuschreiben oder weiche immer wieder nach links oder rechts ab, weil ich nicht auf den Weg gucke. Zuschauer denken bestimmt, ich bin besoffen.

Auf dem Weg hab ich Mr. Roberts mit seiner Töle getroffen. Hat die Kacke nicht eingesammelt.
Hab das Friedhofstor wieder aufgebrochen. Kevin wird mich killen.
Ist schon rostig, das alte Ding. Da braucht es nicht mehr viel Zutun.

Jetzt sitze ich auf einem Grabstein, Madeleine Roosevelt oder so. Hat ganz nette Blumen. Alt und welk und rottend. Manchmal stelle ich mir vor, dass ich hier unter dieser Erde liege, in einer kleinen, engen Kiste eingeschlossen. Keine Luft.
Ich kriege keine Luft.
Dann geht's an Sterben und scheiße, wenn sich das nicht besser anfühlt als Leben, dann weiß ich auch nicht mehr.

Dieses Universum fickt mich.

Schaue auf meine Hände und hasse sie. Nägel sind runtergekaut, Finger viel zu schmal. Fuck, ich bin ein verdammter Fall für die Klapse.

"Hey, du!"

Erschrocken fährt Moore zusammen und lässt sein Tagebuch fallen. Gottverdammte Scheiße! Ein stechender Schmerz arbeitet sich durch seinen Knöchel bis in sein Hirn, als er vom Grabstein rutscht.

"Willste die Totenerde fressen, oder was?"

Leises Lachen. Er kennt dieses Lachen. Hat es oft gehört. Es gehört zu einem gutaussehenden Gesicht umrahmt von blonden Locken. Mit tiefen, blauen Augen darin, kalt wie schmelzende Polkappen.

"Nee", brummt er und reibt sich den Knöchel, als er aufsteht. Mit kritischem Blick sucht er den nachtschwarzen Boden nach dem kleinen Büchlein ab, das er hat fallen lassen.

Aber der Besitzer des Lachens ist schneller. Elegant schwingt er sich über den nächsten Grabstein und hat auch schon das Tagebuch in der Hand.

Moore fühlt die Panik. Ganz tief, an irgendeinem Ort, den er nicht benennen kann. Es ist, als würde ihn ein großes, schweres Nichts verschlingen.

"Bitte", murmelt er und streckt zaghaft die Hand aus. Er hat sich noch nie so elend gefühlt, noch nie, an keinem noch so beschissenen Tag. Heute ist einfach alles schiefgelaufen.

Aber er kennt Kane Wellington. Kennt ihn sogar ziemlich gut, hat ihn immerhin lange genug von weitem studiert. Wenn er lang genug in dem Buch blättert, findet er bestimmt auch einen Eintrag über sich.

Mehr Angriffsfläche. Mehr Zeit für Lacher. Aber Moore kann kein beschissenes Lachen mehr ertragen. Erstrecht nicht dieses schöne, das aus Kane Wellingtons Mund kommt.

Fick die Welt, denkt er sich und funkelt Kane mit einer Mischung aus Furcht und Zorn an. Fick alle.

Diese blauen Augen, dieser Sommerhimmel, der gleichzeitig die schwärzeste Nacht ist, starrt zurück. Dann blinzelt er, streicht sich sie strähnigen Locken aus der Stirn und reicht ihm das Buch. Verzieht keine Miene dabei.

Moores Finger zittern, als er es entgegennimmt.

"Was suchstn du aufm Friedhof?", fragt Kane dann ganz gelassen, lehnt sich an einen Grabstein und zündet sich ne Kippe an. Ganz ruhig, so als wäre nichts gewesen.

Moores Hand mit dem Buch zittert immer noch.

"Sterben", sagt er leise, sagt er eigentlich nur zu sich selbst, aber Kane hört es. Kane sollte es hören.

"Sterben is was für Alte, Tote und Ungeziefer", erwidert er dann und pustet den Rauch in die kalte Nachtluft. "Bist nicht alt, bist kein Ungeziefer. Und nicht tot."

Er nimmt einen weiteren Zug und fügt dann an: "Noch nicht."

Moore starrt ihn an, ganz schamlos und unverwandt. Und er hat alles Recht dazu. Bis zu diesem Tag haben er und Kane Wellington nie ein verdammtes Wort gewechselt. Sie kommen von gänzlich anderen Planeten.

"Ich weiß, du hast mich mal gezeichnet", redet sein Gegenüber ganz unbekümmert weiter, rückt seine zerschlissene Jacke ein bisschen zurecht. "In Sport, als du auf der Bank saßt, weil der Coach es so übertrieben hat."

Er grinst, als würde er in glücklichen Erinnerungen schwelgen, dabei war dieser Tag wie alle davor und danach einfach nur beschissen. Moore heulte in der Umkleidekabine und schnitt sich auf dem Klo in die Arme. Der Coach hat in die Schnitte gedrückt. Emotionale, tiefe Schnitte.

Moore besteht quasi nur aus verfickten Schnitten.

"Was tust du hier?", fragt er schließlich nach einer langen Zeit, in der sie einfach nur schweigend dastanden. Seine Finger krallen sich in das Tagebuch.

"Über den Tod sinnieren", antwortet er und es klingt nicht nach einer Lüge. "Satan anpreisen und Gedichte schreiben."

Wieder dieses Grinsen, das nicht da sein sollte, aber da ist, weil es Kane Wellington ist und Kane Wellington nicht ist wie alle anderen.

Kane Wellington kann auf einem Friedhof über Satan sprechen und immer noch grinsen.

"Wirkst nicht, als würdest du schreiben", nuschelt Moore in den Kragen seines Pullovers. Er müsste das hier hassen, diese ganze Situation. Er müsste frieren, seine Finger vor Kälte nicht mehr spüren und leise anfangen zu weinen. Stattdessen ist er hier und unterhält sich mit Kane.

"Und du nicht, als würdest du sterben", schießt der zurück und stößt sich von seinem Grabstein ab. "Denn soll ich dir mal war über das Sterben erzählen?"

Jetzt packt er ihn an den Schultern, die Kippe im Mundwinkel. Schüttelt ihn. Moore starrt einfach nur.

"Sterben ist nur was für Ratten und eierlose Schwächlinge", meint er.

Aber er kennt dieses Elend nicht. Den Schmerz. Die Leere.

"Gib dir bloß nicht die Schuld für diese Scheiße", redet er weiter, die Hände nicht von Moores Schultern nehmend.

"Was willst du?" Moore schaut ihn entgeistert an. Nie. Sie haben nie zuvor ein Wort miteinander gewechselt.

Wieder grinst Kane und formt mit den Lippen das Wort 'Chaos'. Dann lässt er ihn jäh los und wendet sich ab.

"Wir haben hier Freitag ein Date, Moore", sagt er noch, indem er geht und von der Finsternis verschluckt wird. "Schreib's dir lieber in dein schlaues Buch."

Habe also Kane Wellington kennengelernt. Ist n komischer Typ. Definitiv durchgeknallt.

Ich werde Freitag sicher nicht herkommen. Das ist verrückt, vollkommen verrückt.

Wir kennen uns nicht.

Ich wollte einfach nur allein sein. Einmal nur.

Jetzt habe ich Fragen, wo ich Antworten wollte. Was ist denn das für eine Scheiße?

Da schieß ich mir lieber in den Kopf, als nochmal herzukommen.

AmokpoesieWo Geschichten leben. Entdecke jetzt