Ich denke an morgen, die ganze Zeit. Ich denke an Kane Wellingtons Worte, ich denke an seine blauen Augen, an seine blonden Locken und an sein hübsches Gesicht.
Ich denke an das, was er hat, was ich niemals haben werde.
Heute war ich da. Den ganzen Tag. In Kunst, in Englisch, in Bio.
Keine fragt, wo ich war, wie's mir geht. Wenn ich gerade nicht als Zielscheibe tauge, bin ich unsichtbar.
Mr. Buler hat mich zum Direktor geschickt. Der hielt ne Rede, von wegen wie wichtig Bildung ist und dass ich doch aufs College möchte und meine Chancen verspiele.
Welche Chancen?
Und: Ist alles okay?
Ich schaff das schon. Ich bin inzwischen gut darin, diesen Satz zu sagen. 'Ich schaff das schon'.
Es tut kaum noch weh, wenn ich es sage. Nur noch Taubheit.
In der Pause hab ich mir wieder in die Arme geschnitten. Ich sollte aufhören damit, aber ich kann nicht. Habe mein Gesicht im Spiegel gesehen, aber es ist nicht mein Gesicht.
Ich hasse das Gesicht. Ich will es nicht haben. Ich will diese dünnen Augenbrauen nicht, dieses Schmale und Runde. Ich will meinen Kopf gegen das Glas schlagen, bis es bricht.
In Englisch lobte Mr. Fitzgerald meinen Aufsatz, dabei hat er ihn nicht verstanden. In Bio hab ich Kane Wellingtons Blick in meinem Nacken gespürt.
Er denkt an morgen Abend, da bin ich mir sicher. Genau so, wie ich an morgen Abend denke und nicht weiß, was ich davon halten soll. Ich habe absolut keine Ahnung, was passiert.
Wir haben nicht gesprochen. Wir existieren nicht im selben Kosmos. Trotzdem weiß ich, dass ich morgen Abend zum Friedhof gehen werde, obwohl ich mir lieber in den Kopf schießen würde.
Und ich weiß, dass auch Kane zum Friedhof gehen wird. Um 'Gedichte zu schreiben und Satan anzupreisen'.
Ich habe keinen Durchblick. Ich verstehe ihn nicht. Ich beneide ihn nur.
Moore sitzt auf der Bank vorm Café. Kevin ist heute nicht da. Hat frei. Er wartet auf Alicia. Hat ihr heute morgen versprechen müssen, nach der Schule auf sie zu warten.
Er kann sie nicht ausstehen. In ihrem Universum existiert nur sie und sie allein. Seine Gefühle interessieren sie nicht.
Vielleicht ist das auch eine Stärke. Sich nicht darum zu kümmern, was andere fühlen. Und sie hat nie versucht, ihn zu verstehen. Nicht mal versucht.
Als er sie auf der anderen Straßenseite sieht, seufzt er tief. Dann entdeckt er Kane, ein paar Meter neben ihr.
Sie und eine ihrer Freundinnen werfen ihm immer wieder verstohlene Blicke zu, kichern, als wäre das unauffälliger als ihn einfach anzusehen.
Moore sieht ihn einfach an. Alles andere ist Bullshit. Heute trägt er einen grün gestreiften Pullover. Seine Haare sind fast Schulterlang. Er sieht aus wie der Typ Rockstar, der eigentlich keiner sein will.
Als sie Ampel auf grün springt, geht er direkt auf Moore zu.
Ja, irgendwas hat Kane Wellington an sich, dass man ihn einfach bewundern muss. Er macht Moore auf schmerzliche Weise alles bewusst, was er nicht ist, aber er kann trotzdem nicht anders, als ihn anzusehen.
'Chaos', bewegen sich Kanes Lippen vor seinem inneren Auge. Als er näher kommt, erkennt Moore einen Button mit einem 'A' an seinem Rucksack.
"Mitternacht", sagt Kane unvermittelt und bleibt direkt vor ihm stehen. Moore starrt ihn einfach nur an.
"Was?"
"Morgen", sagt Kane. Seine Stimme ist warm und tief. Moore würde töten für diese Stimme. "Mitternacht."
Dann ist er weg.
Er fragt sich, ob sein Leben anders wäre, hätte er früher mit Kane gesprochen. Gleichzeitig hat sich seit Sonntagabend nicht viel verändert.
"Wer war das?", reißt Alicia ihn aus seinen Gedanken. "Was wollte er von dir? Woher kennst du ihn?"
"Schule", murmelt er. "Kane Wellington."
"Er ist süß."
Moore verzieht das Gesicht und schaut Kane hinterher. Süß. Das ist nicht das Wort, das er benutzen würde.
"Bläst du wieder Trübsal?"
Er schüttelt kaum merklich den Kopf. Sie hat keine beschissene Ahnung.
"Du könntest einfach aufhören, schwarze Hoodies zu tragen und depri zu sein, weißt du?"
Sie kaut wieder Kaugummi. Ganz unbeschwert.
"Was willst du?", fragt er in scharfem Tonfall und sieht sie angepisst an. Manchmal würde er sie am liebsten erwürgen.
"Kaufst du mir Alk?"
"Nein."
"Bitte. Ich seh zu jung aus dafür."
"Frag Rod."
"Der is n Wichser."
"Hab keinen gefälschten Ausweis."
"Dann besorg dir einen."
Das ist nicht ihr beschissener Ernst. Moore schüttelt den Kopf. Er hat doch nicht für sowas auf sie gewartet.
"Du kannst mich mal, Ali", brummt er und packt seine Sachen zusammen.
"Du bist scheiße, weißt du das?"
Noch ein Stich. Sie ist gut darin, sie weiß es nur nicht. Ihre Stiche sind mindestens genauso schmerzhaft wie die von Lindsay und Tyler.
"Frag Rod", wiederholt er und steht auf.
"Nur weil du keinen Spaß hast", hört er sie schimpfen, aber es ist ihm egal. Es war ihm noch nie so egal.
Sie hat sich nie um seine Gefühle geschert. Darum, was er will oder braucht. Es geht immer nur um sie.
Er wünschte, die Leute würden ihn nur einmal ernsthaft danach fragen, wie es ihm geht und er müsste nicht lügen. Er wünschte, er könnte die Wahrheit sagen.
Er wünschte, er könnte den Spiegel anschreien und gewinnen.
Als er den Weg entlang geht, schaut Kane ihn aus dem Fenster eines Ladens forschend an. Schachtel Kippen in der einen Peace-Zeichen in der anderen Hand.
'Fick die' sagt sein Blick, als wüsste er bescheid.
Moore schüttelt den Kopf. Seine Gedanken sind so zerstreut wie sonst nie. Er fühlt sich verloren. Er fühlt sich abseits von allem.
Mitternacht. Morgen. Was soll er davon halten?
Vielleicht war Kane Wellington schon die ganze Zeit da, im Schatten und ich habe ihn erst jetzt bemerkt.
Vielleicht bedeutet es was. Oder es ist komplett bedeutungslos.
Vielleicht ist er das, was ich sein will oder doch nur einer mehr, der Scherze auf meine Kosten macht.
Noch ist nichts durch ihn besser geworden. Ich grabe mich nur tiefer in meinen Schmerz und frage mich, was passiert, wenn ich den Grund erreiche.
Falle ich dann in ein ewiges, schwarzes Loch? Wäre das nicht das einfachste?
'Chaos', formen Kanes Lippen, als wäre es ein Kuss.
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Amokpoesie
Ficción GeneralWir gehen jetzt mal morden, du und ich. Denn alle hier sind Ratten, nur wir zwei Wir sind Götter. Komm, schieß die Schüler nieder Und alle Lehrer tot. Moore zeichnet Spiegel - Kane zerschlägt sie. (Vorab: Ich will Amokläufe nicht verherrlichen. Die...