2. Eintrag, Montag

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Heute Test geschrieben. Ist erwarteterweise scheiße gelaufen. Sehe auf das Blatt, aber sehe die Buchstaben nicht. Ich vergesse jeden beschissenen Satz, gleich, nachdem ich ihn gelesen hab. College kann ich vergessen. Wir haben eh kein Geld.

In der Pause hat Tyler wieder versucht, mein Shirt hochzuziehen. Hat dann meinen kleinen Finger gebrochen, einfach so. Als wär's ein Ast. Ein hässlicher, dürrer, zerbrechlicher Ast.

Ich bestehe aus Ästen. Morschen, toten Ästen.

Ich hätte gern geheult, aber ich fühle mich einfach nur erschöpft und ausgehöhlt. Jeden Montag das gleiche. Jeden verfickten Montag. Wie ein höllische Kreislauf.

Immer der graue Himmel. Die Schulglocke. Das Leben, das mir auf die Fresse gibt, weil ich es nicht ertragen kann, wie ich bin.

Die Schwester hat gefragt, ob sie einen Krankenwagen rufen soll. Der Finger wäre gebrochen. Ich wusste das und schüttelte den Kopf. Nein, alles gut. Nur ein Kratzer. Tut kaum weh. Du bist aber tapfer. Nein, bin ich nicht. Nur leer.

In Mathe habe ich kaum gehört, was Mr. Buler gesagt hat. Es dröhnte in meinem Kopf. Konnte den Stift nicht halten.

In der Mittagspause bin ich dann doch aufs Klo, um zu heulen. Hab mir wieder in die Arme geschnitten. Brennt wie Scheiße. Wird nicht taub, egal, was man glaubt. Brennt einfach.

Lindsay hat dann gesagt, ich soll mich gefälligst aus ihrem Klo verpissen.

Wollte die letzten zwei Stunden schwänzen. Hab ich in letzter Zeit oft gemacht. Ich glaube, bald rufen sie bei mir zu Hause an. Als ob Mom das kümmern würde.

Kann Geisteskrankheit in der Familie liegen?

Als ich mich davon schleichen wollte, saß Kane Wellington allein auf dem Schulhof und hat geraucht. Diese Augen sehen aus, als hätten sie schon alles gesehen. Hab noch nie so blaue Augen gesehen. Und noch nie jemanden, der so einen Fick auf alles gibt.

Als ich an ihm vorbei gegangen bin, haben seine Mundwinkel gezuckt. Zumindest glaub ich das. Kann's mir auch eingebildet haben. Vielleicht hat er an seine Worte von gestern Abend gedacht.

"Gib dir bloß nicht die Schuld für diese Scheiße."

Aber wem soll ich denn sonst die Schuld geben?

Sehe auf meine Knöchel und finde sie furchtbar. Schmal und knubbelig. Sehe die Schnitte in meinen Armen.

Wem denn sonst, Kane?

Moore lehnt sich an seinem Stuhl zurück und starrt aus dem Fenster raus in die Nacht. Nur Silhouetten bewegen sich durch die Schwärze. Eine Straßenlaterne flackert.

Auf seinem Tisch liegen Zeichnungen, Gekritzel und vollgeschriebene Zettel verteilt. Die Schulbücher liegen auf dem Boden verstreut.

'Chaos', liest er in Gedanken von Kanes Lippen.

'Chaos', spricht er stumm nach.

Wie kommt es, dass sie vorher nie geredet haben?

Gut, er weiß es. Er redet nicht. Mit niemandem, außer mit Kevin. Und Kevin geht nicht mehr in die Schule. Hat ihn allein gelassen.

Aber er hat Kane bemerkt, immer schon. Das stimmt. Er hat ihn in Sport gezeichnet. Hat versucht, den Ausdruck dieser Augen einzufangen.

Das sind Augen, die sagen, dass sie einen Fick drauf geben. Auf die Welt.

Das Gegenteil seiner Augen. Seine Augen könnten heulen, die ganze Zeit.

Er kann den Schmerz nicht beschreiben. Nicht richtig, zumindest. Nur so abgedroschen, wie es in Büchern steht. Aber er will nicht, dass es abgedroschen klingt. Es ist echter, harter, kalter Schmerz.

Manchmal glaubt er, dass der Schmerz ihn mehr hasst, als die Leute in der Schule. Deshalb darf er nicht abgedroschen klingen.

Sie stehen auf dem Kriegsfuß, er und der Schmerz. Er verliert.

Wenn er in den Spiegel sieht, verliert er.

Dabei ist Selbsthass ironischerweise so ein schönes Wort.

Er zuckt zusammen, als er seine Mutter in der Küche schreien und mit Töpfen werfen hört. Einmal haben die Nachbarn deswegen die Cops gerufen. Haben gesagt, seine Mom wär ne Irre. Stimmt auch.

Manchmal wirft sie die Töpfe und Pfannen nach Rodney, dem Dealer, mit dem sie fickt. Manchmal wirft sie sie nach Leuten, die gar nicht da sind.

Als er jünger war, hat ihm das Angst gemacht. Jetzt ist es nur noch ein weiteres Symptom seiner sterbenden Welt.

Er und seine Schwester sprechen nie darüber. Ohnehin sprechen sie kaum. Sie hasst ihn auch. Das tun alle.

Gedankenverloren blättert er durch die Seiten seines Tagebuchs. Er hat schon einige dieser Bücher voll geschrieben. Es gibt Seiten über seine Mutter und ihre Episoden, über Kevin und über seine Schwester.

Und über Kane Wellington gibt es auch eine. Jetzt vielleicht sogar noch mehr.

Er kriegt die Worte nicht aus seinem Kopf.

'Wir haben hier Freitag ein Date, Moore.'

Er hat heute oft an diese Worte gedacht. Was will Kane von ihm? Was hat er auf dem Friedhof gemacht? Wie kommt es, dass er ihn angesprochen hat, einfach so?

Moore dreht einen Stift zwischen seinen dürren Fingern hin und her. Er könnte es aufschreiben. Aber dann würde er zugeben, dass es ihn beschäftigt.

Viel mehr, als es sollte.

Nach dem, was er von Kane mitgekriegt hat, gibt es für ihn keinen Grund, jemals mit ihm zu reden.

Zwei Universen.

Er ist nur ein Gesicht auf dem Schulflur. Aber seine Worte, die haben getroffen. Genau getroffen. Kugeln mit seinem Namen drauf, mitten ins Herz.

'Sterben is was für Alte, Tote und Ungeziefer.'

Aber er fühlt sich wie Ungeziefer. Und die Leute treten nach ihm, als wäre er Ungeziefer.

Tot fühlt er sich schon lange. Jeden Tag wieder. Ein bisschen leer. Ein bisschen leerer. Taub.

Manchmal wünscht er sich, es wäre tatsächlich so. Einfach nichts mehr fühlen. Wie einfach dann alles wäre.

Nachdenklich kaut er an seinen Nägeln herum. Einfach nichts mehr fühlen. Nicht die Schnitte, nicht das Brennen, nicht den Schmerz.

Nicht zusammenzucken, wenn seine Mutter die Töpfe wirft. Nicht heulen, wenn Tyler an seinen Klamotten zieht. Einfach nichts fühlen.

Er erinnert sich wieder an Kanes Blick. Er sieht aus, als könnte die ganze beschissene Welt ihm nichts. Deshalb hat er ihn gezeichnet. Das hat er noch nie gesehen. Bei niemandem.

Denke also an Kane Wellington.

Denke an Freitag. Will mir eigentlich immer noch lieber in den Kopf schießen, als mich mit dem Typen zu treffen.

Will nicht da sein und erfahren, dass alles doch nur Verarsche war. Weil es immer so ist. Weil es lustig ist.

Wofür sonst bin ich gut?

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