7. Eintrag, Samstag

79 16 8
                                    

Haben bis morgens um fünf auf dem Friedhof gesessen. Rodney hat mich angeschrien und mit Schlägen gedroht, weil ich erst so spät wiedergekommen bin.

Von wegen 'Dachte schon, ich müsste die Bullen rufen', aber jeder mit auch nur einer Hirnzelle weiß, das würde er nie tun. Dann würden sie ja seinen Stoff finden und ihn verknacken.

Alicia war besoffen, glaube ich. Keine Ahnung, wo sie das Zeug her hatte. Ist auch egal. Hat gar nicht mitgekriegt, dass ich weg war.

Mom sowieso nicht. Hat gesagt, ich soll mich in mein Zimmer verpissen. Hab ich gemacht.

Irgendwas ist anders. Ich sehe die Unordnung und finde Frieden darin. Ich sehe meine Zeichnungen und finde Schönheit darin.

Irgendwas ist anders. Ja. Ich kenne jetzt Kane Wellington.

Sein Vater war bei der Army, da hat er die Jacke her. Seine Mutter ist tot. Ist egal, meint er. Und er schreibt tatsächlich gerne. Gedichte und Prosa. Wäre Englisch interessant genug, würde er es nicht schwänzen, meint er.

Und er mag laufen. So sieht er auch aus.

Ich hab ihn gefragt, wie er das mit den Spiegeln meint. Er hat gesagt, er meint es so, wie er es meint.

Ich kann mich immer noch nicht ertragen. Aber Kane. Kanes schöne Stimme und sein warmes Lachen, wenn er gerade gesagt hat, dass alle ihn mal am Arsch lecken können.

Ich wünschte, ich könnte so denken.

Vor dieser Woche war er eine Statue, die ich beschrieben habe. Ein Kunstwerk, oberflächlich analysiert.

Jetzt ist er aus dem Nebel getreten. Real.

Ich kann nicht schlafen. Kann ich nie. Aber jetzt viel weniger. Fühle mich nicht müde, sondern wach. Weiß, es wird verschwinden.

Aber das Chaos bleibt.

Chaos.

Es muss gegen zehn sein, als Alicia ihm sagt, sie hat Frühstück gemacht. Er glaubt nicht dran. Sie macht nie Frühstück.

Seine Mutter sitzt im Nebenzimmer vor der Glotze, Rodney kuriert seinen Kater mit Koks, Kippen und Froot Loops aus.

Tatsächlich hat Alicia Eier mit Speck gemacht. Stark verkohlt. Wahrscheinlich hat Rodney sie gezwungen.

"Das wird noch ein Nachspiel haben", poltert er, als Moore sich an den Tisch setzt. Das sagt Rodney gerne. Aber meistens ist er viel zu high, um tatsächlich irgendwas zu machen.

"Wo hast du dich rumgetrieben?", fordert er dann zu wissen.

"Friedhof", antwortet Moore tonlos und schüttet sich Cornflakes in eine Schüssel. Er hat eigentlich keinen Hunger.

"Haste Leichen ausgebuddelt?"

"Nee."

"Mit wem hast du dich getroffen?", will er wissen und zieht mit einem Dollarschein seine Lines vom Tisch.

"Nem Freund."

Moore spricht nicht gern über sein Leben oder die wenigen Menschen, die er hat. Es geht den Rest der Welt nichts an. Es gibt ihnen nur Munition. Ins Herz geschossen. In die Seele. Einfach so.

"Fickfreund?", fragt Rodney Froot Loops kauend, als würde es ihn was angehen.

"Nein."

Jetzt gerade wäre er gern unsichtbar. Oder tot. Oder beides. Es geht Rodney nichts an. Es geht niemanden was an. Die Worte, die er und Kane auf dem Friedhof gewechselt haben, sind jetzt heilig. Ihre Verbindung. Eine nicht ganz so beschissene Erinnerung.

So kommt die Zeit, wenn ein jeder sich freut.

Die erste Zeile. Sie wissen noch nicht, wie es weitergeht.

"Aber du hättest ihn gern als Fickfreund", stichelt Rodney weiter, schmatzt, kratzt sich am Kopf, als wäre das Gespräch ganz beiläufig.

Alicia, die gerade reinkommt, steigt mit ein. Gottverdammt.

"Wen hättest du gern als Fickfreund?"

"Halt die Fresse", entgegnet Moore.

"Halt du doch die Fresse", sie verschränkt die Arme vor der Brust. "Außerdem, ich dachte, du bist jetzt kein Mädchen mehr."

Moore hört irgendwas in seinem Kopf brechen. Ein ganz leises Geräusch zuerst, winzige Risse in einer Glasscheibe. Dann schlägt er mit dem Vorschlaghammer dagegen, Glasklirren, Scheibe kaputt.

Wütend fegt er die Schüssel vom Tisch.

"Halt deine gottverfickte Fresse!", schreit er sie an. Scherben auf dem Boden, aber es juckt ihn nicht. Scherben in seinen Fußsohlen, als er auf sie zustampft, aber es juckt ihn nicht.

Sicherung durchgebrannt. Feuer im Kopf. Körper zittert.

Rodney ist sprachlos. Alicia auch.

Es tut ihm nicht leid, als er sie schlägt. Er hat sie nie geschlagen. Ihr Vater hat das gemacht, als sie klein waren. Wenn er besoffen nach Hause kam.

Moore hat sich geschworen, er macht das nie. Jetzt hat er sie geschlagen und es fühlt sich verdammt gut an. Die Wut ist noch da. Und der Schmerz, den sie nicht versteht, auf dem sie herumtrampelt, als wäre es ein Witz.

Es ist kein beschissener Witz.

"Halt. Dein. Verficktes. Maul!", fährt er sie noch einmal an, den Arm neben ihrem Kopf abgestützt. Er weiß, sie konnte ihn nie leiden. Er hasst sie. Er hasst sie alle.

"Verpiss dich in dein Zimmer", brummt Rodney, als er die Sprache wiederfindet.

"Verpiss du dich doch", erwidert Moore und zieht sich eine Scherbe aus dem Fuß. Brennt auch wie Scheiße. Aber nachher ist wieder alles taub.

Und keiner hat ne Ahnung, wie es ihm bei der Sache geht. Keiner fragt.

Alicia heult. Das heißt, sie heult nicht richtig. Eine Träne auf ihrer Wange, dann stürmt sie aus der Küche.

Wüsste sie, wie das ist, hätte sie es nicht gesagt. Würde sie nur einmal aus der Welt rauskommen, in der es sich nur um sie dreht. Immer nur um sie.

Rodney guckt ihn ne ganze Weile ziemlich blöd an.

"Willste Koks?", fragt er und kaut auf seinen Froot Loops rum. "Tut was für's Selbstbewusstsein."

Moore schüttelt den Kopf. Höchstens Pillen, die ihn vergessen lassen. Die ihn aus diesem beschissenen Körper raustreiben, der nicht sein Körper ist. Der sich nicht so anfühlt.

Einfach Pillen, die einen ins Weltall schießen.

Rodney deutet auf den Boden. Auf die Scherben.

"Das machst du noch weg."

Moore nickt. 'Chaos' liest er in Gedanken von Kanes Lippen. Das ist Chaos.

Er spürt dumpfen Schmerz in seinem gebrochenen Finger, als er die Scherben aufsammelt. Dumpfen Schmerz in der Hand, in die er den Stift gebohrt hat. Dumpfen Schmerz in seinen Fußsohlen. Erinnert ihn daran, dass er lebendig ist.

Ich hab also versucht, einen Scheiß drauf zu geben. Hat nicht funktioniert. Weiß nicht, wo du wohnst, Kane. Hab nicht gefragt.

Nur über den Tod sinniert und Totenpoesie geschrieben. Leidenspoesie.

Ungeziefer überall.

So kommt die Zeit, wenn ein jeder sich freut.

Betrachte die Schnitte auf meinen Armen. Meinen Füßen.

Wenn Blut befreit.

AmokpoesieWo Geschichten leben. Entdecke jetzt