14. Eintrag, Mittwoch

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Wir sind Götter.

Der Satz spukt durch meinen Kopf.

Götter des Chaos.

So kommt die Zeit, wenn ein jeder sich freut
Wenn Schrot befreit,
Tut's mir nicht leid

Weiß nicht, wie spät es ist. Draußen ist es dunkel. Hab das Gefühl für Zeit verloren. Minuten erscheinen wie Stunden, Stunden wie Wimpernschläge.

Seine Stimme in meinem Kopf, mein Halt, meine Hoffnung. Blaue Augen, die durch mich hindurch in meine Seele starren.

Götter.

Heute kann er nicht schwänzen. Die rufen bei ihm an, wenn er nochmal schwänzt und das kann er sich nicht leisten.

Ich kenne seinen Vater nicht, aber er spricht nicht gern von ihm. Scheint n unangenehmer Typ zu sein.

Vielleicht redet er mit Lindsay, weil er weiß, dass ich das nicht tun würde. Ich kann nicht. Ich kann ihr nicht in die Augen sehen.

Ich glaube, er sieht mich an und er denkt, dass ich es kann. Ich will es können. Will das dumpfe, verzehrende Gefühl nicht fühlen. Will nicht in das ewige schwarze Loch fallen.

Kane glaubt daran.

Sehe meine Hände an, frisch genäht, eingegipst. Überall Narben. Gibt noch mehr, gibt die, die keiner sieht.

Meine Finger sind immer noch dürr, die Knöchel knubbelig. Evers Finger. Evers Körper. Meine Narben.

Ich wünschte, er wäre hier. Würde wieder Steinchen gegen das Fenster schmeißen, würde von neuer Poesie und alten Philosophen reden, während im Hintergrund Musik den Abgrund untermalt.

Dann könnten wir das Gedicht weiterschreiben. Totenpoesie. Das letzte Licht, das bleibt. Die einzige Waffe, die wir haben. Aber geben oder nehmen wir?

Ich fühle mich so müde, so ausgelaugt, aber ich weiß, wenn ich jetzt versuche, zu schlafen, kann ich es nicht.

Alicia spricht nicht mehr mit mir. Hat sie auch vorher nicht... Wenn sie an mir vorbei geht, senkt sie den Blick.

Hab den Spiegel zerschlagen. Hab Furcht hinterlassen.

So fühlte es sich mit Mom an, so viele Jahre. So fühlt es sich an, wenn Rodney besoffen mit seiner Knarre rumfuchtelt.

Diese Furcht, diese Machtlosigkeit, begleitet jeden Tag in der Schule. Sie lähmt mich, wenn ich die Pistole nehmen will.

Weil ich nicht weiß, ob ich es kann.

Wäre es mutig, es zu tun?

Würde es irgendetwas ändern?

Besorg ich mir ne Waffe,
Damit ich's pünktlich schaffe
Uhr tickt,
Countdown läuft,
Welt fickt,
Herz ersäuft

Würde es jemanden kümmern?

"Chaos", formen seine Lippen, als er die Seite glatt streicht und das Tagebuch eilig zuklappt, als Kevin ihm eine dampfende Tasse Kaffee vor die Nase stellt.

"Du siehst nicht gut aus", murmelt Kevin und rupft sich die alberne Mütze seiner Uniform vom Kopf.

"Hmm", macht Moore ohne ihn anzusehen und legt die Hände um die heiße Tasse.

Er ist hier, weil er mit niemandem sonst reden kann. Aber auch Kevin kann er es nicht erzählen, nicht wirklich. Die Worte wären leer und er würde sie nicht verstehen.

"Willst du was zu essen?"

Moore schüttelt den Kopf. Seine Finger fahren über den Einband des Buches.

Kevin seufzt, ringt mit sich. Bestimmt will er was sagen, ihm Ratschläge geben, wie Moore die Situation handhaben soll. Aber er kennt die Situation nicht, ist nicht qualifiziert, Ratschläge zu geben. Er kennt den Schmerz nicht. Den gottverdammten Schmerz, der alles so beschissen unerträglich macht.

"Du musst dir endlich Hilfe suchen", rät Kevin mit leiser Stimme. Er klingt mitleidig, aber Moore will das Mitleid nicht. Er will, dass sich etwas ändert.

"Ich will keinen Seelenklempner", erwidert er und schiebt seine Tasse hin und her.

Dieses Gespräch lässt ihn die Unterhaltungen mit Kane umso mehr vermissen.

"Du warst im Krankenhaus", Kevin beugt sich eindringlich zu ihm vor. "Du hast deinen Kopf gegen einen beschissenen Spiegel geschlagen."

Wie er das sagt, klingt es, als wäre es etwas Schlechtes. Dabei war es der erste Moment in Moores Leben, in dem er sich frei gefühlt hat. In dem er die Macht hatte. In dem er entscheiden konnte.

Zu sagen, es ginge ihm gut, wäre eine Lüge. Aber diese eine Sache bereut er nicht.

Irgendwas fühlen.

"Und was willst du dann tun, hmm?"

Kevin ist wütend. Sie kennen sich seit Ewigkeiten und er war nie so wütend, nicht einmal. Aber vielleicht kannten sie sich dafür auch nicht gut genug.

Moore schluckt schwer. Er kann das hier nicht. Er kann nicht in Kevins Augen sehen und die Sorge sehen. Die Sorge lässt sein Herz schwer werden, lässt die Tränen aufsteigen.

Er hat die verdammte Sorge nicht verdient. Keiner sorgt sich je um ihn.

"Ich weiß nicht", flüstert er. Er hat keine Ahnung, was er tut. Alles fühlt sich falsch an. Im falschen Leben, in der falschen Welt, im falschen Körper.

Nur mit Kane fühlt es sich richtig an. Dann ist der Himmel unendlich. Dann ist er ein bisschen mehr er selbst.

"Moore, das bringt dich am Ende noch um."

Du bringst dich am Ende noch um, meint er eigentlich. Auf die eine oder andere Weise. Vielleicht mit Rodneys Knarre, vielleicht mit seinen Rasierklingen, vielleicht mit Spiegelscherben.

Wäre das nicht wahre Totenpoesie?

Vielleicht verliert er sich in seinem Schmerz, in dem schwarzen Loch in seiner Brust. Moore kann nicht mehr, eigentlich. So steht es im Tagebuch. Er kann nicht mehr.

Vielleicht ist es ein Abschiedsgedicht.

Aber er weiß, er kann es nicht tun. Nicht so, nicht heute, nicht irgendwann.

Götter, hat Kane gesagt. Sie sind Götter.

Wenn er ein Gott ist, sollte er dann nicht die Kraft haben, standzuhalten? Dem Druck nicht nachzugeben?

Sollte er nicht stärker sein als das, als die Ratten?

Kevin ist blass und fährt sich immer wieder nervös über die Stirn, als hätte er etwas Falsches gesagt. Aber eigentlich hat er nur die Wahrheit ausgesprochen.

"Ich will keine Hilfe", murmelt Moore und denkt an all ihre vergangenen Treffen. An Kevins Scherze und einfache Gespräche ohne Bedeutung.

Eine gute Ablenkung von der Realität.

Zitternd steht er auf, nimmt sein Tagebuch und lässt den Kaffee unberührt stehen.

Er sagt kein Wort, als er geht, aber er weiß, Kevin hätte gern etwas gesagt. Hätte sich gern verabschiedet.

Aber es gibt keinen Abschied, nur Chaos.

Ich glaube, ich habe noch einen Spiegel zerschlagen. Und mit jeder Scherbe stirbt Ever ein bisschen mehr.

Ich bin nicht Ever. Ich war nie Ever.

Ich will nicht mich mit der Pistole erschießen. Ich will erschießen, was die Leute sehen, wenn sie mich ansehen.

Ich will erschießen, was die Ratten sehen.

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