11. Eintrag, Sonntag

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Ewig nicht geschrieben. Denke an Kane. Der Friedhof ist jetzt schon zwei Wochen her. Und er war nicht da. Nicht einmal. Frage mich, was all das bedeutet hat oder ob es bedeutungslos war.

Nebenan streitet Mom mit Alicia. Ist einer ihrer schlechten Tage. Nach mir hat sie heute morgen auch ein Glas geworfen.

Wir können uns die Krankenhausrechnung nicht leisten. Das wusste ich von dem Moment, als ich mit brummendem Schädel aufgewacht bin. Und Rodneys Drogengeld reicht bei weitem nicht.

Meine Hand, die den Stift hält, zittert. Tut sie die ganze Zeit. Tut sie, wenn ich sie über Papier halte und meinen Albträumen Gestalt verleihen will, aber nichts sich richtig anfühlt. Tut sie, wenn ich die Gabel halte und mich zum Essen zwinge.

Das Zittern ist eine Warnung.

Ich weiß nicht, was in den nächsten Wochen wird. Wir haben einfach kein Geld. Hatten wir nie.

Widerlich eigentlich, dass das Zeug die Welt bestimmt. Dass die Ratten sich daran weiden. Dass es das ist, was durch ihre Adern fließt.

Und wenn du kein Geld hast, dann stirbst du eben. Allein und im Dunkeln. Dann kommen die Maden und Würmer und nagen dir die Haut von den Knochen.

Daran denke ich die ganze Zeit. Ich, wie ich unter der Erde liege. Gerade so viel Erde, dass noch ein letzter Lichtstrahl mein Gesicht erreicht. Ich bin ganz starr. Das Ungeziefer frisst mich auf.

Warum ist Kane nicht gekommen?

Ich habe jeden Tag auf ihn gewartet, Chaos auf den Lippen. Ich wollte ihm sagen, dass ich den Spiegel zerschlagen hab. Endlich.

Aber er war nicht da. Alles Illusion, alles Lüge. Wie sonst auch.

Ich bin nur Lügen wert.

Moore hält inne, als er ein Klicken hört. Kaum wahrnehmbar wie das Ticken einer Uhr. Aber wenn man genau lauscht, ist es brüllend laut.

Noch ein Klicken. Er zuckt zusammen. Klick.

Sein Zimmer ist dunkel, nur die Schreibtischlampe brennt. Suchend schaut er sich um.

Klick. Da, direkt vor ihm.

Er schaut aus seinem Fenster raus in die schwarze Nacht. Sein Spiegelbild blickt zurück. Dieses runde Gesicht, das er so hasst. Direkt zwischen die Augen trifft ein Stein. Klack.

In der Dunkelheit taucht ein lächelndes, von blonden Locken umrahmtes Gesicht auf. Kane winkt.

Moore hält inne. Sein Verstand arbeitet.

Was will er jetzt, wo er ihn die ganze Zeit allein gelassen hat? Wo er nicht da war, nicht eine Sekunde?

Kane tritt ganz nah an die Scheibe heran, sodass sie sich direkt ansehen. Hinter ihm nur Finsternis. Aber seine Augen leuchten blau.

'Chaos', formen seine Lippen. Er legt eine Hand auf das Glas.

"Komm, Moore", hört er dumpf. Die Wände des Zimmers scheinen immer näher zu kommen.

Moore versteht es nicht. Er versteht es einfach nicht. Er hat den Spiegel zerschlagen und Kane hat ihn allein gelassen. Jetzt schmeißt er Steine gegen sein Fenster als wären sie heimliche Liebhaber.

Er weiß absolut nicht, was er da tut, als er sich seine Schuhe schnappt und nach draußen stürmt.

Er hasst es und liebt es. Er fühlt den Rausch. Wie eine Droge, die sich langsam durch seinen Körper ausbreitet. Gleichzeitig kann er nicht fassen, dass er das hier tut.

Kane war nicht da. Warum ist er jetzt da?

Draußen blickt Moore sich suchend um. Die Welt um ihn herum schwankt kaum merklich. Zwischen verdorrten Büschen und besprayten Zaunlatten versucht er, Kane auszumachen.

Das Kabel, das seine Gedanken mit ihm verbindet, ist nicht richtig eingesteckt. Die Gehirnerschütterung zeigt ihre Nachwirkungen.

"Moore", Kanes Hand auf seiner Schulter. Moore fühlt die Wärme durch seinen Hoodie. Und die Stimme, diese wunderschöne Stimme. Er würde alles tut für diese Stimme.

Er betrachtet Kane eine Weile und wird nicht schlau aus seiner Miene. Aber er fühlt diesen Stich in seinem Inneren, weil er nicht da war. Er hätte da sein müssen. Er hätte etwas sagen müssen. Sagen, dass es nicht umsonst war. Dass er nicht verrückt ist. Dass es gut wird, irgendwann.

Er glaubt das sonst niemandem, aber wenn es aus Kanes Mund kommt, würde er es glauben.

Es wird gut, irgendwann.

"Du warst nicht da", flüstert Moore. Beschämt stellt er fest, dass sich in seinen Augen Tränen sammeln. Weil er nicht die Kraft hat. Weil er es nicht besser kann. Er hasst es.

"Nein", stimmt Kane zu und berührt ihn sachte am Arm. "Tut mir leid."

Damit ist das Thema beendet. Es klingt zumindest so. Final und endgültig. Lass-uns-über-andere-Dinge-reden-mäßig. Kane hat keine Ahnung, wie weh das tut.

"Ich will, dass du mit zu mir kommst", sagt er leise. Im Mondlicht scheint er nur aus Grautönen zu bestehen.

Moore hört sein Herz klopfen und fühlt in das Loch hinein, aus dem die Einsamkeit kommt. Die Leere, die ihn verschlingt. Kane hat keine beschissene Ahnung.

"Du warst nicht da", wiederholt Moore, fester als zuvor. Wütender.

Kanes Blick wird nachdenklich, als suche er nach einer Antwort. Aber vielleicht gibt es gar keine? Vielleicht war alles Lüge, von Anfang an.

"Warum warst du nicht da?", Moore spürt sein Herz brechen, während er das sagt. Er hatte nie einen Freund wie Kane. Das verleiht diesem Satz eine völlig neue Bedeutung.

Er meint ein kurzes Flimmern von Schmerz in Kanes Gesicht zu sehen. Reue. Aber vielleicht ist es auch nur Einbildung und Wunschdenken.

"Komm", sagt Kane und nickt in Richtung Straße. Keine Antwort auf die wichtigste Frage.

Aber Moore fühlt sich so schrecklich allein und kalt. Er kann nicht anders, als mitzugehen. Er kann dieses letzte Fünkchen Hoffnung nicht aufgeben. Wenn er es täte, wäre alles umsonst. Welchen Sinn hätte das alles dann noch?

Kane sagt kein Wort, während sie durch die Nacht streifen, dennoch herrscht eine stillschweigende Zweisamkeit. Es ist, als würden sie reden, ohne zu reden.

Er weiß nicht, wie lange sie unterwegs sind, als Kane tatsächlich etwas sagt.

"Ich hätte da sein sollen", hört Moore ihn murmeln. "Tut mir leid."

Dieses mal liegt mehr Bedeutung in dem Tut-mir-leid. Es ist eine Verheißung. Ein Versprechen. Ein Ich-mach's-wieder-gut.

Es ist anders und gleichzeitig, als wäre nie was gewesen. Ich bin wütend, aber die Wut gilt nicht ihm, gilt nicht mir, sondern der Welt.

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