3. Eintrag, Dienstag

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Schwänze Mathe. Kann die Zahlen nicht mehr sehen. Kann das Lachen nicht mehr hören, wenn ich um Hilfe bitte. Fühle mich dumm.

Bleibe hier, bis Sport vorbei ist. Kann die Scheiße nicht ertragen. Hatte außerdem vor ner Weile diese Kreislaufprobleme, seitdem behandelt mich der Coach wie ein rohes Ei.

Bin kein rohes Ei. Bin ne Totgeburt.

Kann sein, dass Lindsay mich später wieder aus 'ihrem Klo' schmeißt. Aber wo soll ich sonst hin? Hier kann man sich am besten vor allem verstecken.

Würde mich am liebsten eingraben. Würde gerne Pillen nehmen und nichts mehr fühlen.

War mit meinem Finger nicht beim Arzt. Ist auch scheißegal. Der Schmerz erinnert mich daran, dass ich lebe.

Ich frag mich, ob ich aufwache, wenn ich meinen Kopf nur hart genug gegen die Kabinentür schlage.

In meinem richtigen Körper. In meinem richtigen Leben.

Dort, wo Schule Spaß macht.

Sie hat früher Spaß gemacht, glaube ich.

Ich wünschte, ich könnte einfach schlafen und an nichts denken.

Die Tür geht quitschend auf und er hört Absätze. Natürlich könnte es jeder sein, aber bei seinem Glück ist es Lindsay. Er weiß nicht, was er ihr getan hat, aber sie hasst ihn. Hasst ihn seit dem Junior Year.

Dabei haben sie nie wirklich geredet. Sie ist immer mit ihren rosafarbenen, glänzenden Freundinnen unterwegs. Die Leute mögen sie. Sie ist gut in der Schule. Sie sieht gut aus. Ihre Eltern haben Geld.

Er hat ihr nie etwas getan. Er hätte nie ein Wort mit ihr gewechselt. Aber eines Tages beschloss sie, ihn zu hassen.

Auch Schmerz.

Aber wenn er ehrlich ist, dann ist ihr Hass noch sein geringstes Problem.

Leise rauscht das Wasser. Kaltes Wasser. Nie warmes Wasser. Künstliche Nägel auf Keramik. Ein Reißverschluss, der geöffnet wird.

Lachen und Schwatzen von vor der Tür.

Er hält die Luft an, versucht, sich nicht zu bewegen. Schon das leiseste Rascheln könnte ihn verraten. Und wenn es um ihn geht, ist Lindsay ein gottverdammter Bluthund.

"Ich weiß, dass du da drin bist, Moore", hört er ihre hohe Stimme sagen. Sie hat diesen selbstgefälligen Unterton. Wahrscheinlich klopft sie sich gedanklich auf die Schulter.

"Du kommst da besser freiwillig raus."

Er hört die Abneigung in jedem Wort. Er weiß nur nicht, woher sie kommt.

"Raus da oder ich hole den Coach", giftet sie. Ihre künstlichen Nägel klacken, als sie an die Tür klopft.

Mit zitternden Fingern lässt er das Tagebuch in seinem Rucksack verschwinden. Sie darf den Coach nicht holen, auf keinen Fall. Das macht alles nur noch schlimmer.

Er öffnet die Tür. Sie ist größer als er, vor allem mit den Absätzen und er hasst das. Er hasst diese langen Beine, die er nicht hat. Er hasst es, dass er so verdammt klein ist.

"Raus jetzt", zischt sie. Er ergreift die Flucht.

In Sport sitzt er auf der Bank. Tut er immer, deshalb kann er genauso gut schwänzen. Jetzt muss er die hämischen Blicke und abfälligen Bemerkungen ertragen.

Jedes Mal ein Schlag ins Gesicht.

Kane Wellington läuft an ihm vorbei, die blauen Augen direkt auf ihn gerichtet. Er weiß es. Moore weiß nicht, woher, aber er ist sich sicher, Kane weiß es. Es liegt in seinen Gesichtszügen. Dieses Verstehen.

Kein Wort, nur Verstehen.

Fröstelnd legt Moore die Arme um sich. Er ist viel zu dünn und der Hoodie viel zu groß. So ist es am besten.

Wenn er an das letzte Mal zurückdenkt, als er Sport mitmachen musste, will er am liebsten Sterben.

Hinter dem Rücken des Coachs klettert er unter die Tribüne in die sichere Dunkelheit. Sie ist wie der Friedhof. Sie verurteilt nicht. Nur Schweigen.

Von hier aus beobachtet er, wie die anderen laufen. Kane läuft neben niemandem, überholt ein paar Leute. Die Sportler gucken angepisst.

Moore hat eine Heidenangst vor ihnen. Vor allem vor Tyler. Vor Tyler und seinen Händen, die rau und erbarmungslos unter seinen Hoodie gleiten.

Er schließt die Augen. Ihm ist schlecht.

Habe denen also beim Laufen zugeguckt. Dann beim Basketball. Kane ist gut. Ist mir nie aufgefallen.

Später hab ich geschwänzt, obwohl ich Englisch eigentlich mag. Konnte es einfach nicht mehr ertragen.

Müssen inzwischen denken, ich geb nen Fick drauf. Wie gern ich nen Fick drauf geben würde. Aber ich fürchte mich einfach nur. Vor Blicken und Getuschel und Gelächter.

Vor der Frage 'Wie geht es dir?', worauf ich dann antworten muss 'Gut', weil niemand was anderes hören will. 'Gut genug'. 'Ich komm schon klar'. Ja, das wollen sie hören. Dabei komme ich nicht klar. Ich bin müde und kann nicht schlafen. Ich will heulen und fühle mich nur leer.

Ich komm schon klar. Bin ich bis jetzt. Schaff ich auch noch den Rest der Strecke.

Kane Wellingtons blaue Augen sehen mich zweifelnd an.

Er hat ein schönes Gesicht. Vielleicht habe ich ihn gezeichnet, weil ich neidisch darauf war. Auf die Kanten. Auf die Symmetrie.

'Chaos', formt sein Mund in meinem Kopf. Ich denke die ganze Zeit an Sonntag Abend.

Was will er von mir? Nichts Gutes. Es ist nie was Gutes.

Er legt den Stift weg und duckt sich, als er Schritte hört. Nach Sport ist er auf den Schulhof hinter den Müllcontainer geflüchtet.

'Wo du hingehörst' würde Lindsay sagen.

Er drückt das Tagebuch eng an sich und späht hinter dem Container hervor.

Kane Wellington sitzt da, mitten auf dem Schulhof, zur Unterrichtszeit und es juckt ihn nicht.

Er raucht. Dass das verboten ist, interessiert ihn auch nicht. Ja, inzwischen ist Moore sich ziemlich sicher, dass er ihn für mehr als bloß sein Aussehen beneidet.

Er hat Kane nicht oft mit anderen Menschen erlebt. Dafür hat er nicht genug auf ihn geachtet. Aber er ist öfter allein, als Moore dachte. Dabei sieht Kane eigentlich aus, als könnte er so viele Freunde haben, wie er nur will.

Moore dreht den Stift wieder zwischen den Fingern. Er kann die Einsamkeit nicht so genießen. Sie frisst ein Loch in ihn hinein. Ein ewig leeres Loch.

Er kann es nicht stopfen. Er hat es versucht. Er kann nichts tun, um sich weniger zu hassen, außer Spiegel zu meiden. Und Menschen.

Aber sie sind überall.

Sehe Kane Wellington an und frage mich, ob es einfach ist.

AmokpoesieWo Geschichten leben. Entdecke jetzt