03 - Riesengroße Arschlöcher

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Tod. Ein Thema, was nicht selten in der Schule besprochen wird. Menschen werden geboren, um zu sterben. Das ist aber nicht der Sinn des Lebens. Einen Sinn muss jeder für sich selbst finden. Wofür lohnt es sich zu leben? Was macht die manch trostlosen Tage erträglich? Was muss getan werden, um nicht mit schlechtem Gewissen von dieser Welt zu gehen? Unsere Hausaufgabe ist es, das alles herauszufinden. Die Deadline ist der Tag unseres Todes. Wir sollen unser gesamtes Leben damit verbringen, uns mit dem Sinn des Lebens zu beschäftigen. Ich nehme mir vor, kurz vor meinem Tod nicht zurückzublicken und zu denken: Oh, hätte ich das mal besser noch gemacht. Ich will meinen letzten Atemzug genießen und mit einem Lächeln von hier gehen.

Die Schule lehrt uns, dass jeder Mensch eine gewisse Zeit zu leben hat und das alle auf unterschiedliche Art und Weise gehen. Die einen sterben an einer Krankheit, die anderen bei einem Unfall und manche gehen, weil sie lange genug hier verweilt haben und nun ihre Ruhe finden wollen. Es wird immer gesagt, dass der Tod plötzlich und ohne Vorwarnung kommen kann. Daher sollen wir unser Leben in vollen Zügen genießen, die kleinen Dinge wertschätzen und Zeit mit unseren Liebsten verbringen. Das Unerwartete soll nicht gescheut werden. Es soll keine Angst gezeigt werden. Denn mit dem Tod ist das Leid vorbei.

Der Tote findet seine Ruhe und seinen Frieden.

Doch was ist mit denen, die zurückgelassen werden? Was ist mit liebenden Eltern, die ihre Kinder verlieren oder in meinem Fall: Wenn ein Kind seine Mutter verliert?

Es ist ein Gesetz der Natur, dass Eltern vor ihren Kindern gehen. Aber wieso gibt es Personen, die gegen dieses Gesetz verstoßen? Ist es nicht unfair? Dass man nie vollends auf das Unerwartete vorbereitet sein kann? Ich weiß nicht, ob ich es besser weggesteckt hätte, wenn ich gewusst hätte, was mich am Nachmittag zu Hause erwarten würde. Aber ich weiß, dass ich mich verabschiedet hätte. Ich hätte ihr gesagt, dass ich klarkomme, dass ich sie vermissen werde und dass ich sie liebe. Ich hätte sie gedrückt und mich vielleicht auch mit ihr versteckt. Sich vor dem Tod verstecken ist unmöglich, das ist mir bewusst. Aber es ist möglich, sich vor Unmenschen zu verstecken, die meinen, über das Leben anderer entscheiden zu können. Zu müssen.

Es ist ironisch, dass der Tag, an dem mein Leben begonnen hat, genau zwölf Jahre später zum Ende meines Lebens geworden ist.

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Montag, 06.07.2020

Es ist jeden Tag das Gleiche. Während ich eine halbe Stunde vorher auf der Arbeit bin und schon den riesigen Dokumentenstapel von der letzten Woche abarbeite, lässt mein Boss sich Zeit. Als er dann endlich auftaucht, kann ich fast schon die schwarze Aura, die ihn düster umgibt, leuchten sehen. Auf seiner Stirn steht in unsichtbarer Tinte: Vorsicht! Bissig!

„Guten Morgen", begrüße ich ihn gezwungen höflich, seine genervte Miene dabei ignorierend.

„Bring' mir einen Kaffee", giftet er mich an und geht an meinem Schreibtisch vorbei in sein Büro. Erst als ich die Tür lautstark zuknallen höre, fluche ich leise vor mich hin.

„Bring' mir Kaffee", äffe ich ihn nach und hebe drohend meine Faust, als würde ich ihm gleich eine über den Latz ziehen. Wenn meine Existenz nicht von diesem Job abhängig wäre, hätte ich ihm tatsächlich schon längst ein Gesetzbuch über den Kopf gezogen.

Wütend knalle ich eine Tasse unter die Kaffeemaschine und drücke unsanft auf den Start-Knopf. Als der Kaffee plätschernd eingegossen wird, höre ich die unbekümmerte Stimme meiner Kollegin hinter mir.

„Ich dachte, der Sport hilft dir, deine Aggressionen zu kontrollieren." Die rothaarige junge Frau kommt auf ihren viel zu hohen Stelzen auf mich zu und lehnt sich elegant gegen die Küchenzeile. Ein breites Grinsen umspielt ihre vollen, rot bemalten Lippen.

Blue Rose - Band 1Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt