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Meine Hand zittert so stark, dass ich beim Klopfen beinahe abrutsche. Als ich dieses Haus das letzte mal verlassen habe, dachte ich, ich würde nie wieder zurück kommen, doch hier bin ich.
Auf der halbstündigen Fahrt hierher hätte ich wahrscheinlich nachdenken sollen, mir überlegen wie es weitergehen kann und wie ich mit der ganzen Situation umgehen möchte. Doch über nichts der gleichen habe ich tatsächlich Gedanken gemacht. Mein Gehirn schwirrt vor Enttäuschung, Wut, Reue und Angst, sodass ich mich kaum konzentrieren kann.
Ich muss daran denken, wie Noe mir erklärt hat, dass die Welt nicht in richtig und falsch aufgeteilt ist, da man im Nachhinein nicht einmal sagen kann, wo der Fehler liegt. Sieht so aus als hätte er Recht, denn ich weiß nicht, ob es dümmer von mir war Noe zu seinem Vater zu bringen, mit ihm zusammen gekommen zu sein oder den Job überhaupt angenommen zu haben.
Endlich öffnet sich die Tür vor mir und Mike starrt mich mit großen Augen an.
Ich bin ihm gerade bestimmt nicht willkommen - nach unserer letzten Außeinandersetzung will er mich bestimmt nicht mehr in seiner Wohnung haben. Aber wohin hätte ich denn sonst gehen sollen?
Innerhalb einer Sekunde realisiert mein Gegenüber meinen zittrigen Körper, meine aufgebissene Lippe und die Tränen in meinen Augen. Bevor ich mich erklären kann oder wenigstens ein Wort der Entschuldigung heraus bringe, zieht er mich in seine Arme.
Ein Strom der Erleichterung wird in mir freigesetzt. Ich vergrabe mein Gesicht an seiner Schulter und fange leise an zu schluchzen. Ich bin fix und fertig, fühle mich verloren und verwirrt, weiß nicht was ich tun soll und bin gleichzeitig so dankbar hier sein zu dürfen.
Mike hält mich fest, streicht mir sanft über den Hinterkopf und schweigt einfach. Sein Gesichtsausdruck ist nicht sichtbar für mich, doch allein die Tatsache, dass er mich nicht loslässt, beruhigt mich.
Womit habe ich ihn nur verdient?
Er behandelt mich besser, als ich es ihm jemals zurück geben könnte.
Ich weiß nicht wie lange wir so lange dastehen, doch mein bester Freund rührt sich keinen Zentimeter, bis ich mich schließlich vorsichtig von ihm löse. Meine Augen sind geschwollen und meine Wangen gerötet. Hastig wische ich mir ein paar Tränen weg.
In diesem Moment tritt Kate hinter ihrem Freund hervor. Ihr Blick ist kritischer, doch nicht abweisend.
»H-hey«, sage ich mit brüchiger Stimme und versuche ein Lächeln.
»Willkommen zurück«, antwortet Mike und macht einen Schritt zur Seite, um mich herein zu lassen. In seiner Stimme ist ein ganz feiner Unterton zu hören, der mir sagt, dass er mir noch nicht ganz vergeben hat. Warum sollte er auch? Ich habe mich furchtbar benommen.
Unsicher trete ich durch die Schwelle. Zu meiner Überraschung fühlt es sich nicht nach Versagen an, wieder hier zu sein. Eher als würde ich nach einer langen Schlacht nach Hause zurückkehren. Eine Schlacht, die ich leider nicht gewonnen habe...
»Es tut mir so leid«, hauche ich.
Mike nickt kurz und macht eine einladende Geste in Richtung Wohnzimmer. »Lass uns reden.«
Als ich mich auf dem Sofa niederlasse, kann ich deutlich spüren, dass die Dinge sich verändert haben. Zwar war ich nur knapp zwei Monate weg, doch inzwischen ist diese Wohnung nicht mehr mein Zuhause. Diese Erkenntnis tut weh. Die Villa konnte ich nie ganz als Heim akzeptieren und dort werde ich wohl nie wieder willkommen sein, diese Wohnung, in der ich über mehrere Jahre hinweg gelebt habe, fühlt sich fremd an und wenn ich jetzt nach Seattle zurück gehe wird mein Versagen offiziell sein.
Mike und Kate sitzen mir jeweils schräg gegenüber. Sie drängen mich nicht, doch ihre Augen wenden sich keine Sekunde von mir ab. Ich schulde ihnen unbestreitbar eine Erklärung, doch es fällt mir so schwer, einen Punkt zu finden, anzufangen.
»Als ich nach Los Angeles kam«, beginne ich schließlich vorsichtig. »-war ich voller Hoffnung. Mir war klar, dass ich nicht innerhalb eines Monats nach Hollywood kommen würde und ein paar Wochen später neben Tom Hanks bei den Oscars sitzen würde. Und das war okay. Ich war bereit hart zu arbeiten, zu kämpfen und so viel Zeit zu investieren, wie eben nötig. Doch es verstrich immer mehr Zeit und ich wurde unsicher. Ich wurde Teil einer belächelten Gruppe junger Mädchen, von denen es weniger als 0,1% tatsächlich groß raus schaffen. Das hat mir Angst gemacht!
Ehrlich gesagt wusste ich nicht, was schlimmer wäre: halb pleite gehen, keine Zukunft und Bildung zu haben, aber trotzdem noch versuchen meinen Traum zu leben oder ein eintöniges Leben zu haben, in dem ich zwar ausgesorgt habe, aber mit dem Wissen klarkommen muss, dass ich niemals meinen größten Wunsch erfüllen konnte.
Es ging mir nicht um Ruhm oder Geld - alles was ich wollte, war, schauspielern. Jeden Tag, jede Sekunde hat es sich so angefühlt, als wäre ich dafür geboren worden.
Doch wenn ich die Blicke des Castingdirektoren gesehen habe, wusste ich genau, dass sie nicht an mich glauben - genauso wenig wie es meine Familie oder meine Freunde in Chicago getan haben. Und immer mehr habe ich auch den Glauben in mich selbst verloren.«
Ich halte kurz inne und muss schlucken. Noch nie habe ich so offen darüber geredet, doch es ist die Wahrheit.
»Tag für Tag wurde ich verzweifelter. Ich wollte so viel üben, wie nur möglich, doch ein anderer Teil von mir, hatte schon sämtliche Motivation verloren.
Aber dann - als ich kurz davor war aufzugeben - habe ich Sierra Stryker getroffen.«
Mit jedem Satz den ich sage, fällt es mir leichter zu erzählen. Jedes Ereignis, von dem ich berichte, scheint weniger schwer auf meiner Seele zu lasten. Ab und zu gehe ich ganz ins Detail, gebe ganze Konversationen wieder, und manchmal fasse ich die Geschehnisse nur in wenigen Sätzen zusammen. Ich kann kaum noch aufhören zu sprechen, so gut fühlt es sich an, all das schließlich loszuwerden.
Vielleicht darf ich immer noch nicht darüber reden, doch das ist mir egal. Mike und Kate sind aktuell die einzigsten Menschen, die bereit sind mir zuzuhören und nachdem ich den Jungen, den ich liebe, verloren habe, kann ich ein offenes Ohr mehr als gut gebrauchen.
»Wenn es dich tröstet«, sagt Kate, nachdem ich meinen Bericht vollendet habe. »Dein Schauspiel war gut genug, dass ich dir die Beziehung abgekauft habe.«
Das erste Mal seit viel zu langer Zeit schleicht sich ein kleines Lächeln auf meine Lippen. »Immerhin.«
»Ich denke, ich verstehe warum du es getan hast«, schaltet Mike sich nun ein. »Aber du hättest mit uns reden können! Du weißt, wir würden niemals etwas weiter sagen.«
»Ja, ich weiß.« Seufzend vergrabe ich meinen Kopf in meinen Händen. »Ich hatte nur das Gefühl, ich müsste mal eine Entscheidung für mich alleine treffen, wie so eine Art Reifeprüfung.«
»April, das ist Quatsch«, sagt er sanft. »Du wirst niemals alleine sein.«
»Danke...«, antworte ich leise. Jetzt, da alles raus ist, wünschte ich, ich hätte sie schon viel früher mit einbezogen. Als Außenstehende können sie besser als ich selbst über meine Situation urteilen und ich weiß genau, dass die beiden immer nur das beste für mich wollen.
»Also, wie denkst du geht es weiter?«, fragt Kate ruhig und lehnt sich ein Stück zurück.
»Ich weiß es ehrlich gesagt nicht. Theoretisch ist der Vertrag noch gültig, aber wenn er von beiden Seiten als nichtig erklärt wird, kann die Laufzeit frühzeitig beendet werden.«
»Willst du das denn?«
»Der Vertrag kann von mir aus zerrissen und verbrannt werden, aber ich habe Angst davor, was das für Noe und mich bedeuten würde.« Ich halte inne und überlege. »Er hat sich schrecklich verhalten und ich sehe weder eine Erklärung, noch eine Entschuldigung. Aber ich weiß nicht ob ich ihn einfach gehen lassen kann. Niemals hätte ich gedacht, dass ein Mensch mich so glücklich machen kann...«
Mike und Kate tauschen kurz einen Blick aus und ich glaube ein Lächeln auf den Lippen beider zu sehen. Sie wissen wovon ich rede - natürlich!
Dann wendet sich Kate wieder mit ernster Miene zu mir. »Was du brauchst, ist ein Neuanfang. Mit Noe oder ohne Noe. Versuch mit ihm in Kontakt zu treten und ein Treffen zu vereinbaren. Dort könnt ihr über alles reden und am Ende wirst du sehen, ob es sich lohnt, diese Beziehung weiter am Leben zu erhalten. Wenn ja, dann könnt ihr ohne Vertrag und mit beseitigten Differenzen weiter machen und wenn nein, wird dir das Gespräch wenigstens dabei helfen, mit diesem Kapitel abzuschließen.«
Langsam nicke ich. »Ja, das ist gut, denke ich. Nur - ich brauche ein wenig Zeit.«
»Selbstverständlich«, sagt Mike und schenkt mir ein Lächeln. »Es ist schön dich wieder hier zurück zu haben.«
»Dein Zimmer haben wir im Übrigen nie ausgeräumt«, fügt Kate schmunzelnd hinzu.
Ich umarme beide noch einmal, dann meine ich, dass ich ein wenig Zeit für mich alleine brauche und verschwinde in meinem alten Raum.
Zurück zu sein, macht mich seltsam nostalgisch. Mir wird nochmals stark bewusst, wie sehr mir all das gefehlt hat.
Natürlich war es kein schlechtes Gefühl in einem riesigen Himmelbett zu schlafen, Angestellte zu haben und egal wo man sich hinbewegt, alle Augen auf sich zu spüren, doch ein Teil von mir wird immer in diese Welt hier gehören.
Warum kann man nicht beides sein? Am einen Tag bei den Oscars, am nächsten Tag mit alten Kindheitsfreunden in einem billigen Nachtclub.
Ich hätte diese beiden Leben gerne vereint, doch der Vertrag hat dies unmöglich gemacht.
Nachdenklich lege ich mich auf mein altes Bett. Es ist ungewohnt schmal und hart.
Ich ziehe mein Handy aus der Tasche und starre lange auf den Bildschirm.
Wäre es eine gute Idee Noe jetzt schon anzurufen? Am liebsten würde ich ihn ein wenig darüber nachdenken lassen, was er mir angetan hat, doch gleichzeitig fühlt es sich furchtbar an, unsere Außenandersetzung nicht geklärt zu haben.
Ist er noch sauer auf mich?
Bereut er seine Worte?
Würde er mich am liebsten verklagen, weil ich seine Limousine gestohlen habe?
Dieses Unwissen quält mich mehr, als wenn ich mir sicher wäre, dass er mich hasst.
Kurz zittert mein Daumen über dem grünen Hörer neben seinem Namen, doch eine andere Benachrichtigung lässt mich inne halten: ein neuer Artikel über Noe wurde veröffentlicht.
Normalerweise würde ich die Worte grob überfliegen, doch heute mache ich mir nicht einmal diese Mühe.
Meine Augen sind fest auf das Bild fokussiert. An der Qualität kann man erkennen, dass es nicht mehr als die Momentaufnahme eines Paparazzi ist, doch der Inhalt ist trotzdem klar und deutlich zu erkennen.
Die Straßen von South Pasadena sind zu erkennen, nicht weit entfernt von Arthur Glens Villa. Am Straßenrand läuft Noe Glen mit seinem Vater, offensichtlich in einem Gespräch vertieft, voller Ruhe und Entspanntheit, als hätte es nie einen Streit gegeben.

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