Kapitel 1

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„Hier bitte schön Sophia." „Danke dir", ich lächelte Jerry freundlich an und verstaute die eben gekauften Ohrringe in meinem Rucksack. Jessica würde sich mit Sicherheit darüber freuen. Jedes Mal, wenn wir zusammen Shoppen waren, liefen wir an dem Schaufenster des Juweliers vorbei und sie bestaunte diese kleinen, silbernen Stecker, welche im Licht lila schimmerten. Ich schaute auf meine Uhr, es würde noch gute zwanzig Minuten dauern, bis mein Bus kam, also beschloss ich, mich draußen noch ein wenig auf eine Bank zu setzen. Ich verließ das Shopping Center und schlenderte über den Parkplatz, zu einer Bank, welche auf einer kleinen, angelegten Grünfläche stand, und setzte mich. Die ersten warmen Sonnenstrahlen trafen auf meine Haut und wärmten zugleich meine Seele. Der letzte Winter hier in Frisco war viel zu lang und zu nass. Ich schloss die Augen und genoss die Wärme, als das Geräusch lauter Motoren plötzlich die idyllische Stille durchschnitt. Die ortsansässige Motorradgang – die MC Western Legion, das hatte mir Sean damals erzählt – hatte vor dem Crossroads Shopping Center einen angestammten Platz. Sie nutzten die Zufahrtsstraße zum Highway, um anderen Motorradgang zu imponieren und ihr Revier zu markieren, doch normalerweise taten sie dies nicht neun Uhr früh. Ich kniff die Augen zusammen, um etwas mehr zu erkennen. Sie ließen ihre Motorräder etwas abseits stehen und versammelten sich auf dem Parkplatz. Ich schätzte sie auf 30 Mann, die breitschultrig auf dem Parkplatz standen und auf etwas zu warten schienen. Vom Highway her hörte man wieder das Geräusch lauter Motoren, vieler Motoren. Eine weitere Gruppe Biker kam auf den Parkplatz gefahren, stellten ihre Bikes ebenso abseits ab und blieben in der Mitte des Parkplatzes stehen. Weiterhin unbeobachtet verfolgte ich das Geschehen, als plötzlich ein dickerer Mann, mit silbergrauen Haaren das Wort ergriff. „Hey Ranger!" Seine tiefe Stimme ließ mich kurz erschaudern, und doch lehnte ich mich ein Stück vor, um mehr mitzubekommen. „Ich hab dir gesagt, du sollst dich von unserem Revier fernhalten." Der dicke, silberhaarige schien ziemlich wütend zu sein und trat einen Schritt aus der Gruppe heraus. Ein großer, sehr muskulöser Mann mit schulterlangen aschblonden Haaren, offenbar Ranger, straffte seine Schulter und kniff die Augen ein wenig zusammen. „Und ich hab dir gesagt, du sollst aufhören unsere Lieferungen zu klauen", seine Stimme war ebenso tief, wie die des Anderen, doch sie besaß etwas Schneidendes, etwas, wodurch selbst ich Angst bekam. Der Silberhaarige lachte nur, ein lautes, grunzendes, hämisches Lachen. „Ihr müsst nur besser auf euer Zeug aufpassen", meinte er immer noch lachend, drehte sich zu seiner Gang und griff nach etwas. Ziemlich unsanft zog er einen jungen Mann am Kragen seiner Kutte nach vorn und hielt ihn fest. „Zum Beispiel auf eure Mitglieder, die sind ganz schön unachtsam." Ein süffisantes Grinsen breitet sich auf seinem Gesicht aus, als der junge Mann sich zu wehren versuchte. „Lass Rux los!" Man konnte die Wut in Rangers Gesicht deutlich erkennen und auch die anderen Mitglieder spannten sich an und beobachteten die Situation genau. „Dann holt ihn euch doch", rief der Silberhaarige, wobei sein hämisches Lachen immer noch nicht abgeebbt war. Er packte den jungen Mann fester und schubste ihn nach vorn. Noch ehe die Leute der Western Legion reagieren konnte, griff der Silberhaarige an seine Hüfte, zog seine Waffe und schoss Rux in den Rücken. Ich schrie auf vor Schreck, schlug mir die Hände auf den Mund, und doch lagen kurzzeitig alle Blicke auf mir. Ich versteckte mich hinter der Bank, als die ersten Schüsse fielen und neben mir einschlugen. Tränen rannen über meine Wange und tropften auf den Asphalt. Panisch sah ich mich nach einem Versteck um, entdeckte einen großen Blumenkasten und kroch auf allen vieren auf ihn zu. Ich lehnte mich an den kühlen Beton und kramte mit zittrigen Fingern mein Handy aus meiner Tasche. Sie hatten gerade einen Mann erschossen. Ich musste die Polizei rufen. Jemand musste das beenden. Es brauchte ein paar Versuche, bis ich mein Handy entsperrt hatte, zumal die Tropfen auf dem Display dies nicht einfacher gestalteten. Gerade als ich die Nummer der Polizei wählen wollte, schob sich eine große Hand in mein Blickfeld. Ich sah nach oben, vorbei an schweren, nur halb geschnürten Boots, an dunklen, zerrissenen Jeans, vorbei an einer alten, dunkelgrauen Jeansjacke, welche von einer Lederweste bedeckt wurde, in blaugrüne Augen. Seine großen Augen schauten mich erwartungsvoll an, seine Lippen kräuselten sich unter seinem Bart und einzelne Haarsträhnen hingen ihm ins Gesicht. „Komm, ich bring dich hier weg", bot er mir an, seine Stimme zum erschaudern tief und zugleich kratzig. Ich presste mich gegen den Blumenkübel, schüttelte panisch mit dem Kopf. Ein Schuss schlug neben uns ein, weshalb er kurz zusammenzuckte und sein Blick ernster wurde. Die Gedanken flogen wirr durch meinen Kopf und doch fasste ich den Mut, und nahm seine Hand. Er half mir auf die Beine, hielt meine Hand weiter, als er mich abseits des Geschehens zu seinem Motorrad führte. Eine schwarze Harley Davidson, mit Silber glänzender Gabel in einem Zustand, wie ich es nur von dem Bike meines Bruders kannte. Er half mir, mich draufzusetzen, und nahm ein Funkgerät. „Ranger, braucht ihr mich noch? Ich hab hier jemanden gefunden." Er setze sich vor mich und wartete auf eine Antwort. Das Funkgerät knackte. „Fahr ruhig, wir packen das", war die Antwort, welche durch das Knistern und Knacken nur schwer zu verstehen war. „Okay...na dann halt dich mal gut fest", meinte er nur und startete sein Motorrad. Ich sah mich auf dem Bike um und hielt mich dann an den dafür vorgesehenen Griffen fest. „Also wo wohnst du?" Er drehte sich leicht zu mir um, kam mir noch näher, als er eh schon war. Verwirrt und etwas wütend kniff ich meine Augen zusammen und musterte ihn. Als ob ich ihm verraten würde, wo ich wohne. Er schien mein Zögern zu bemerken und lachte leicht, wobei sich kleine Fältchen um seine Augen bildeten. „Ich muss dich ja irgendwo absetzen, du musst mir schon verraten wo", meinte er amüsiert. Seine Augen blitzten vor Belustigung und ich schlug mir wegen meiner Blödheit innerlich gegen die Stirn. „75 Independence Road in Keystone", antwortete ich verlegen und plötzlich schien der Asphalt so viel interessanter als alles andere. Er nickte nur kurz, stieß sich ab und fuhr mit dem Motorrad los. „Das ist ne ganz schön noble Gegend", stellte er fest, während er auf die Hauptstraße abbog. „Kann sein", brummte ich nur und überlegte, ob ich ihm nicht einfach eine andere Adresse hätte sagen können und den Rest gelaufen wäre. Nach einer Weile sah ich zu ihm auf und entschloss mich bei ihm zu bedanken: „Hey... äh...Vielen Dank für Ihre Hilfe", stammelte ich dann jedoch, was mir direkt wieder peinlich war. Er begann zu lachen, ein raues, brummendes Lachen. „Seh ich wirklich schon so alt aus, dass man mich siezen muss?" Er klang äußerst belustigt, während ich einfach nur vor Scham im Boden versinken wollte. „Nein...Ich meine...Sie...Du...Ach man...." Mein lahmer Versuch mich da rauszureden misslang mir gründlich, ich machte es sogar noch schlimmer, als es eh schon war. Doch er fand das ganze einfach nur lustig und lachte weiter. „Nur ein Scherz", entschärfte er die Situation schlussendlich und sah kurz zu mir, um sich vorzustellen: „Ich bin Leo." „Sophia." Meine Wangen glühten vor Scham, und sein charmantes Lächeln brachte mich noch viel mehr in Verlegenheit. Diese groteske Situation, ich mit meinen 17 Jahren mit einem erwachsenen Mann nah beieinander auf einem Motorrad, wurde durchbrochen, als hinter uns laute Motorgeräusche zu hören waren. Leo bog auf die Swan Mountain Road ab, eine alte kurvenreiche und nahezu leere Straße, die sich am Blue River Arm entlangschlängelte. Die Motorräder kamen näher und als der erste Schuss fiel, gab Leo gas. „Halt dich bloß gut fest", warnte er, weshalb ich meine Arme schlussendlich doch um seinen Körper schloss und mich an ihn klammerte. Die Schüsse kamen immer näher, weshalb ich mein Gesicht an seiner kühlen Lederkutte verbarg. Neben und schlugen die Kugeln ein, und jedes Mal zuckte ich zusammen und krallte mich fester in seine Jacke, ignorierte die in mir aufsteigende Übelkeit. Leo zog seine Waffe aus seinem Holster und schoss auf die folgenden Motorräder. Alles in mir drehte sich und ich wollte einfach nur weg, doch abspringen ging nicht, weshalb ich meine Tränen einfach laufen ließ und mein Gesicht verbarg. Leo schoss wieder, darauf folgte ein lauter Knall, er hatte wahrscheinlich ein Motorrad getroffen. Je weiter wir fuhren, desto leiser wurden die Motorgeräusche, bis sie irgendwann gänzlich verschwunden waren. „Ist alles okay?", fragte Leo und drehte sich leicht zu mir. Ich wollte ihm sagen, dass alles gut war, öffnete meinen Mund um zu antworten, doch es kam nichts heraus. Ich zitterte am ganzen Körper, was Leo offenbar auch nicht verborgen blieb. Er fuhr an den Straßenrand und versuchte sanft meine verkrampften Hände von seiner Jacke zu lösen. „Deine Hände sind eiskalt", bemerkte er und löste schlussendlich meinen Klammergriff. Mit einem Mal konnte ich das Gefühl der Übelkeit nicht mehr ignorieren, weshalb ich von seinem Bike sprang, einige Schritte in den Wald lief und mich erbrach. Ehe ich mich versah, war Leo von seinem Bike gestiegen und mit großen Schritten zu mir geeilt. Er fasste meine Haare und hielt sie in einem Zopf zusammen, während ich mich übergab. Beschämt drehte ich mich von ihm weg, wischte mir die Tränen aus den Augen und ging ein weiteres Stück in den Wald hinein. Leo folgte mir leise und reichte mir wortlos ein schwarzes, gemustertes Tuch, was eher nach einem Bandana aussah. Dankbar nahm ich es an, trocknete meine Tränen und wischte mir den Mund ab. „Komm, ich bring dich schnell nach Hause", meinte er leise und nahm meine immer noch kalten Hände in seine. Meine kleinen, kalten Hände, in seinen großen Händen ergaben ein absurdes Bild, weshalb ich sie ihm langsam wieder entzog und auf sein Motorrad zuging. Vorsichtig stieg ich auf und sah Leo erwartungsvoll an. Ein kurzes Nicken, dann stieg er auf, startete den Motor und fuhr los.

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