Kapitel 15

872 19 0
                                    

Nachdem wir uns eingelebt hatten und auf ein paar Parties waren, hatte Allison mir Collin vorgestellt, mit welchem ich mich auf Anhieb super verstand. Er studierte Kulturwissenschaften und war unglaublich süß. Doch jedes Mal, wenn ich ihn ansah oder vor dem Einschlafen an ihn dachte, kamen die Schuldgefühle hoch, dass ich eigentlich einen Anderen liebte. Er besuchte mich jeden Nachmittag in der Bibliothek, brachte mir einen Kaffee und einen Keks und war einfach bei mir. Immer wieder ließ ich ihn abblitzen, versuchte, ihn auf Distanz zu halten, nur um Leo krampfhaft in meinem Kopf zu behalten.
Es war mittlerweile November geworden. Allison und ich waren wie Schwestern, nur, dass wir weniger stritten. Wir erzählten uns alles und gaben auf den anderen acht, und um nicht allein zu sein, beschlossen wir zu Weihnachten in Harvard zu bleiben und mit unserer neuen Familie zu feiern. Wir machten also einen Aushang im Gemeinschaftsraum, dass wir an Heilig Abend eine kleine Feier abhalten würden und jeder, der kommen wollte, sollte kommen. Gemeinsam gingen wir einkaufen, besorgten Getränke, Süßigkeiten und jede Menge Geschenkpapier. Viele Leute schrieben unter den Aushang, dass sie kommen würden, so konnten wir noch besser planen, weshalb wir beschlossen, für alle, die kommen ein kleines Geschenk vorzubereiten. Collin besorgte den Weihnachtsbaum, welchen wir am Nachmittag des 24. Dezembers gemeinsam schmückten, und half bei den Vorbereitungen. Allison und er warteten schon unten auf die ersten Gäste, während ich in unserem Zimmer stand und unentschlossen in meinen Schrank starrte. Letztenendes entschied ich mich für eine hellblaue Jeans, meine geliebten Schnürboots und einen etwas zu großen Strickpulli. Als ich mich im Spiegel betrachtete, seufzte ich leise. Der Pulli gepaart mit der Weste, sah einfach scheußlich aus. Wieder öffnete ich die Schranktür, suchte nach einer Alternative zu dem Pulli, doch bei den Temperaturen blieb mir nur das. Zögernd zog ich meine Kutte aus, hielt sich in den Händen und wollte sie schon wieder anziehen. Wehmütig zog ich dann jedoch einen Karton aus dem Schrank, schob den Deckel weg und legte meine Kutte zusammen, welche ich vorsichtig in die Kiste legte. Die Tür öffnete sich und Allison steckte ihren Kopf durch den Spalt. „Wo bleibst du denn", fragte sie und sah sich um, bis ihr Blick an mir haften blieb und ihre Augen groß wurden. „Was ist mit deiner Kutte?" Ich legte den Deckel auf die Box und schob sie nach hinten in den Schrank. „Ist Geschichte...", meinte ich leise und zuckte mit den Schultern. Allison kam schnell zu mir und schloss mich in ihre Arme, wobei sie mir tröstend über den Rücken strich. Sie wusste von Leo und meiner Vergangenheit bei den Western Legion. Ich schob sie von mir, denn mehr als Vergangenheit war es nicht. „Es geht schon", sagte ich entschlossen und zwang mich zu einem lächeln. Mahnend hob sie eine Augenbraue, sie sah, dass mein Lächeln nicht echt war, doch sie entschied sich, mich zu lassen. „Komm dann einfach runter", meinte sie leise und verließ unser Zimmer. Erschöpft griff ich unter mein Kissen, zog Leos Brief hervor und faltete das Stück Papier auseinander. Vorsichtig, als könnte ich die Buchstaben wegwischen, strich ich über die Zeilen. Seufzend faltete ich das Papier wieder zusammen, öffnete erneut meinen Schrank und ließ es in dem Karton mit meiner Kutte verschwinden. Mit einer, mir unbegreiflichen, Euphorie verließ ich das Zimmer. Überall im Wohnheim roch es nach Weihnachten. Kekse, Punch, Eggnog, ein eigenartiger Hauch von Zimt und unsere frische Tanne füllten mit ihrem Duft die Gänge. Ich ging in den Gemeinschaftsraum, wo schon die ersten Studenten saßen und sich angeregt unterhielten. Im Hintergrund hörte man Mariah Carey leise singen und auf einmal schien alles Perfekt. „Hey Sophia", begrüßte mich Collin und lächelte mich freundlich an. „Du siehst echt hübsch aus." Ich lächelte über sein Kompliment und strich mir verlegen eine Haarsträhne hinters Ohr. „Danke, du siehst auch nicht schlecht aus", meinte ich und deutete auf seinen grässlichen Weihnachtspullover. „Ich wusste, dass dieser Pullover ein echter Hingucker sein wird", scherzte er und schlug mir sanft gegen die Schulter. Er gab mir einen Becher mit Punch, welchen ich dankend annahm und ihm zuprostete. „Wo hast du eigentlich die Weste gelassen?" „Ich...ähm...ist das wichtig?" Ich versuchte ihm auszuweichen, weshalb ich ihn einfach nur adrett anlächelte und hoffte, dass das als Ablenkung reichen würde. „Hast recht. Es ist Weihnachten, das zählt."
Der Abend war einfach wunderbar, es waren so viele Studenten aus unserem Wohnheim gekommen, die gemeinsam mit uns feierten. Viele hatten sogar Essen, Getränke oder kleine Geschenke für uns mitgebracht, um sich zu revanchieren. Irgendwann stahl ich mich nach draußen, um Annie anzurufen und ihr fröhliche Weihnachten zu wünschen, doch irgendwie war ich nicht allein. Ich drehte mich um und entdeckte Collin, welcher gerade die schwere Eingangstür hinter sich schloss. „Was machst du denn hier", fragte ich neugierig, wobei meine Worte nicht mehr ganz klar zu klingen schienen. „Ich wollte dich endlich mal allein erwischen", gestand er etwas nervös und blieb vor mir stehen. „Was gibts denn?" Er hatte seine Hände in seine Hosentaschen gesteckt und starrte auf den Boden. „Naja...man darf sich doch Weihnachten etwas wünschen", begann er sachte zu erzählen und sah mich wieder an. Er kam mir noch näher, sodass sich unsere Körper berührten, und legte seine Arme um mich. „Und ich hab da einen Wunsch...." Er flüsterte, wobei sein warmer Atem kleine Wolken verursachte, die sich kreiselnd auflösten. „Was denn", fragte ich ebenso leise wie nervös. Langsam bewegte er sich auf mich zu, bis seine Lippen schließlich auf meinen lagen. Vor Schreck wusste ich nicht, wie mir geschah, all meine Alarmglocken schrillten, doch dann fiel mir auf, dass es Collin war, den ich tatsächlich gut leiden konnte. Ich ließ den Kuss zu, vertiefte ihn sogar und schmiegte mich an ihn. Kurze Zeit später löste er sich von mir und strahlte mich freudig an. „Du weißt nicht, wie lang ich darauf schon gewartet habe", meinte er schließlich und küsste mich kurz auf den Mund. Unschlüssig, was ich darauf antworten sollte, stand ich einfach da und lächelte ihn stumpf an, wobei ich mir ganz schön blöd vorkam. Ein energisches Klopfen ließ uns auseinanderfahren und zum Fenster starren. Allison stand hinter den Gardinen und hämmerte gegen die Fensterscheibe, die Augen zu einem wütenden Blick zusammengekniffen. „Ich glaube wir sollten wieder rein", meinte ich lachend und zog Collin an seiner Hand nach drinnen.
Das alles ist vier Monate her, das Jahr 2019 hatte einfach großartig begonnen und jetzt langen wir zusammen auf meinem Bett, die Hände ineinander verschränkt und dabei total verliebt. So schien es zumindest, denn jedes Mal, wenn ich in Collins Nähe war, versuchte ich krampfhaft Leo aus meinen Gedanken zu verbannen. „Ich hätte nicht gedacht, dass Jura Studentinnen so schön sind", meinte er und küsste jeden einzelnen meiner Finger. „Du bist süß", erwiderte ich und erhob mich. „Aber auch schöne Menschen müssen lernen, Gott schenkt uns nicht alles", scherzte ich und zog ihn an seinen Händen hoch. „Ist ja gut, ich geh ja schon. Wir sehen uns morgen", sagte er leise und küsste mich kurz, ehe er mein Zimmer verließ. Die Tür schloss sich nicht einmal richtig, da trat Allison ein und schmiss sich auf ihr Bett. „Wie läufts bei dir mit lernen?" Sie lag auf dem Rücken und tippte auf ihrem Handy herum. „Wahrscheinlich genauso gut wie bei dir", stellte ich lachend fest und legte mich zu ihr. Neugierig sah ich auf ihr Handy und betrachtete die Typen, die sie swipend aussortierte oder in die engere Auswahl schloss. „Der ist gut", meinte ich zu einem Typen, der etwas älter zu sein schien, kräftig gebaut war und anders als Collin schon einen Bart hatte. „Hey, du hast Collin", meinte sie streng und sah mich an, wobei sie ihr Grinsen schlecht verstecken konnte. „Mhm." Brummend stand ich auf, setzte mich auf das Fensterbrett und sah auf den blühenden Campus. Sie wusste, dass ich Collin mehr oder weniger als Ablenkung sah, oder, so wie ich es lieber formulierte, als Konstante.

Rising SunWo Geschichten leben. Entdecke jetzt