Kapitel 6

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Wir trafen uns immer unter der alten Eiche, Jessica, Chloe, Sina und ich saßen dort immer gemeinsam auf der Bank, tauschten Schulbrote und quatschten über Jungs. „Hey Jessica", rief ich schon von weiten und öffnete meine Arme für eine Umarmung. „Ich wünsch dir alles Gute zu deinem 18.", sagte ich und umarmte sie fest. „Danke Sophia, ich freu mich, dass du daran gedacht hast." Sie lächelte mich freundlich an, doch irgendwas wirkte falsch daran. Trotzdem zog ich die kleine, samtene Schachtel aus meinem Rucksack und überreichte sie ihr. „Uhh, ein Ring?" Sie lachte scherzhaft und öffnete die Schachtel, wobei ihr Lachen allerdings verschwand. Ich war so gespannt auf ihre Reaktion, wie sie sich freuen würde. „Ein paar Ohrringe?" Ungläubig zog sie eine Augenbraue nach oben und sah mich fragend ab. „Die Ohrringe, die du immer haben wolltest", erklärte ich mit erwartungsvollem Blick. „Sophia, du bist stinkreich und schenkst mir ein paar Ohrringe?" Langsam wurde sie lauter und ich verstand die Welt nicht mehr. „Aber...was hat das damit zutun?" „Sorry, aber das ist echt lahm von dir. Und wenn du öfter für mich da gewesen wärst wüsstest du, dass mir Chloe schon ein paar Ohrringe geschenkt hat, und zwar von Bulgari und nicht aus dem Kaufhaus." „Entschuldige bitte, aber ich dachte es kommt nicht auf den Wert an", versuchte ich mich zu verteidigen. „Ach Schätzchen, es kommt immer auf den Wert an. Aber sei so lieb und bleib am Wochenende doch gleich mit den Ohrringen zu Hause", giftete sie und ging mit Chloe und Sina ab. Ich verstand nicht, was da gerade passiert war. Meine eigentlich beste Freundin hatte mich vor versammelter Mannschaft bloßgestellt und mich dann stehen lassen. Tränen schossen mir in die Augen und ehe ich mir noch die Blöße gab, auf dem Schulhof zu weinen, lief ich schnell zur Toilette und schloss mich in einer der Kabinen ein. Ich atmete einmal tief durch und kramte dann mein Handy aus meiner Tasche. „Echt lahm von mir...Was denkt die sich bloß?" Ich wählte Leos Nummer und drückte auf den grünen Hörer. „Ich zeig der, was lahm ist", brummte ich und wartete darauf, dass endlich jemand abnahm. „Hallo?" „Hey...hey...hier ist-..." „Sophia", unterbrach er mich und aus irgendeinem Grund nahm ich an, dass er gerade genauso lächelte wie ich. „Ja...Ich weiß, dass kommt jetzt plötzlich, aber könntest du mich vielleicht von der Schule abholen?" Ich hoffte, dass er nicht ablehnen würde und drückte mir selbst die Daumen. Es raschelte in der Leitung, dumpfe Gespräche waren zu vernehmen, aber ich bekam nicht mit, worum es ging. „Das ist okay, passt sogar ganz gut. Ein paar Jungs und ich wollten eh mal raus." „Ich danke dir", meinte ich, ehrlich dankbar darüber, dass er mich aus dieser Situation rettete. „Du weißt aber, dass das für Aufsehen sorgen wird", warnte er. „Das ist gut so. Bloß nix lahmes", antwortete ich, wobei die Wut deutlich in meiner Stimme mitschwang. Leo lachte am anderen Ende der Leitung. „Okay, wir reden nachher darüber. Bis gleich." Und damit hatte er aufgelegt. Ich schnappte mir also meine Sachen, stopfte die Ohrringe in die dunkelste Ecke meines Rucksacks und begab mich wieder nach draußen auf den Hof. Der Schulhof lag direkt an der Straße, weshalb es tatsächlich alle mitbekommen würden, zumal die Pause auch noch eine halbe Stunde dauerte. Ich musste nicht lang warten, da hörte ich auch schon das dumpfe Knattern vieler Motoren. Aber als Leo gesagt hatte, er würde mit ein „paar" Jungs kommen, hatte ich nicht damit gerechnet, dass fast die komplette Gang, inklusive Ranger kommt. Wie erwartet, starrten alle Schüler auf die schwarze Welle, die gerade über die Straße rollte. Sogar Jessica war das Geschehen nicht zu lahm. Sie stoppten direkt vor der Schule, ich entdeckte Leo, welcher den Hof nach mir absuchte, und schritt mutig auf sie zu. Die Blicke der anderen bohrten sich förmlich in meinen Rücken und als ich meine Hände auf Leos Schultern legte und mich auf sein Bike setzte, konnte ich deutlich Jessicas hasserfüllten Blick sehen, der auf mir ruhte. Zum ersten Mal bekam jemand mehr Aufmerksamkeit als sie. „Bringt mich bloß hier weg", flüsterte ich Leo zu und legte meine Arme um seinen Körper, um mich festzuhalten. Er ließ den Motor seines Bikes aufheulen, woraufhin die anderen losfuhren und er sich mit in die Formation einreihte. Erleichtert seufzte ich und ließ wieder einmal meinen Kopf gegen seinen Rücken sinken. „Was ist los?" Er sah kurz zu mir, nur, um sich gleich wieder auf die Straße zu konzentrieren. „Erzähl ich dir später. Es ist auch eigentlich ziemlich kindisch", gab ich schlussendlich zu und beobachtete dann meine Umgebung. „Aber danke, das war ein filmreifer Abgang", scherzte ich und spürte die Vibration seiner Brust, als er lachte. „Da hast du recht, dieser brünetten hast du es auf jeden Fall gezeigt", meinte er, wobei sich sein Mund zu einem breiten Grinsen verzog. „Was? Woher?" Wieder lachte er, was mir eine angenehme Gänsehaut bescherte. „Naja, sie war die Einzige, die sich, glaube ich in dem Moment, gewünscht hat, dass du tot umfällst", er zuckte leicht mit den Schultern und konzentrierte sich wieder aufs Fahren. „Wo fahren wir eigentlich hin?" Mit der Zeit wurde ich neugierig, da wir aus Frisco hinauszufahren schienen. „Pioneer Creek. Da lebt der Rest der Western Legion." „Es gibt noch mehr von euch?" Man konnte deutlich hören, dass ich überrascht darüber war, dass es noch mehr Mitglieder gibt, als die ich schon gesehen habe. „Ja, wir sind glaube ich 75 Mitglieder", erklärte Leo und fuhr mit der Gang auf den Highway 9, wo sie Vollgas gaben. Ich fühlte mich wieder super Wohl, alle Sorgen waren wie weggeblasen, wenn ich einfach auf einem Bike sitzen konnte. Wir fuhren ungefähr 20 Minuten, bis wir auf die schmale, ungeterrte Pioneer Creek Road auffuhren. Die Landschaft war einfach unglaublich, wir fuhren durch einen Wald, der sich für einen kleinen See, inmitten einer Lichtung öffnete. Als wir aus dem Wald herausfuhren und hielten, standen wir wieder auf einer Wendeschleife, größer als die andere, im eigentlichen Camp. Von hier aus konnte man über den ganzen Wald und sogar über ganz Frisco sehen. Direkt hinter den Hütten war ein See, der durch einen kleinen Wasserfall in den Blue River mündete. „Wow, ihr sucht euch echt schöne Ecken raus", gab ich beeindruckt von mir und stieg von Leos Bike. „Na Kleine", Ranger kam zu uns und nickte mir leicht zu. „Schwerer Tag?" „Kann man so sagen", antwortete ich und lächelte ihn aufmunternd an. Es war süß, dass er sich um mich sorgte und irgendwie fühlte es sich wie Familie an. „Wir müssen noch einige Hütten bauen, willst du mithelfen? Ansonsten kannst du auch zu Martha gehen", er nickte in die Richtung einer älteren Frau, die auf einer Veranda stand und uns beobachtete. „Nein, ich will mithelfen", sagte ich entschlossen, legte meinen Rucksack ab und krempelte mir die Ärmel meiner Bluse nach oben. Ich ging mit Leo und den anderen zu einem Fundament, um welches schon einige Holzbalken lagen. „Wir machen daraus jetzt das Grundgerüst für das Haus, sodass wir heute Abend die Wände stellen und morgen verkleiden können." „Ich weiß, mein Dad hat Häuser gebaut", sagte ich lächeln und zog mir ein paar Handschuhe an, welche offensichtlich einfach nur herumlagen. Leos staunendem Blick zu urteilen, hatte er nicht damit gerechnet, dass er mich verwöhntes Gör so schnell zu handwerklicher Arbeit bekommt. Gemeinsam mit den Jungs bauten wir also das Grundgerüst für die Wände, wobei wir uns unterhielten und uns besser kennenlernten. Als das Gerüst fertig war, war es bereits Mittag und nicht nur mir knurrte der Magen. „Kommt essen ihr faulen Säcke", rief Martha scherzhaft von der Veranda, weshalb ein paar der Männer anfingen zu lachen, während ein paar wütend in ihren Bart murmelten. Wir gingen in ein sehr großes Haus, was sowas wie das Hauptquartier zu sein schien, und setzten uns im Esszimmer an einen großen, reichlich gedeckten Tisch. „Lasst es euch schmecken Jungs, Ed hätte sich so gefreut", meinte sie und setzte sich zu uns. Die Männer begannen zu essen, während ich mir etwas zaghaft einen Burger nahm. „Oh ein neues Gesicht", bemerkte Martha und sah mich mit einem liebevollen Lächeln an. „Ich bin Martha, Kleines." „Sophia", gab ich lächelnd zurück und sah mich etwas verlegen um. „Ähm...danke, dass ich mit essen darf", sagte ich leise, wobei Leo neben mir versuchte, sich ein Lachen zu verkneifen. „Hör auf mich auszulachen", zischte ich und stieß ihm mit meinen Ellenbogen in die Seite, woraufhin er vor Schmerz zusammenzuckte. „Also eins muss man dir lassen, Leo, die Kleine hat Temperament", bemerkte ein Mann, welcher schon langsam graue Haar bekam und von seiner Statur eher einem Bären ähnelte. Die anderen Mitglieder am Tisch lachten laut über dessen Bemerkung und plötzlich wurde mir unwohl, da ich nicht wusste, ob sie über mich lachten. „Keine Sorge Kleines, du bist hier herzlich willkommen, wir sind hier eine Familie und hier wird nicht übereinander gelacht." Ihr Ton wurde zum Ende hin schärfer, da sie den bärenartigen Typen mit ihrem Blick fixierte und ihm dann einen leichten Schlag auf den Hinterkopf verpasste. Sein Lachen verstummte, dafür konnte ich mir ein Kichern nicht verkneifen, woraufhin Leo mich liebevoll anlächelte. „Ed hätte sich gefreut, so ein hübsches Mädchen mit am Tisch sitzen zu haben", bemerkte Martha irgendwann während des Essens. Ich lächelte etwas verlegen, fragte dann aber geradeaus: „Wer ist Ed?" „Ed war mein Mann, er hat den Club gegründet, als er noch sehr jung war und es war sein Leben." Ihr Blick glitt in die Ferne und wurde wehmütig, als sie an ihren verstorbenen Mann dachte. „Wir müssen die Wände noch stellen", durchbrach Ranger die Situation, die langsam unangenehm zu werden schien. Ein paar, eher jüngere Mitglieder, blieben, um Martha beim Abräumen zu helfen, während wir wieder nach draußen gingen und begannen, ein Seil um die Wände zu zurren, um sie mit einem Flaschenzug anzuheben.

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