Kapitel 16

901 27 0
                                    

Die ersten Prüfungen verliefen reibungslos, überall schloss ich mit einer 1,0 ab, weshalb ich über die Semesterferien mit zu Allison nach New York fuhr. Sie zeigte mit ihr New York und führte mich in die entlegensten und gleichzeitig schönsten Ecken der Großstadt. Ich versprach ihr, sie im Gegenzug mit zu mir nach Hause zu nehmen, wenn die nächsten Prüfungen ebenso gut liefen.
Wir lagen gemeinsam auf Allisons Bett, sie surfte im Internet und ich las mir Leos Brief durch, welchen ich doch nicht in der Kiste lassen konnte. „Sieh mal. Ich hab hier was für dich", meinte Allison und hielt mir ihren Laptop hin. Ich erkannte eine Verkaufsannonce für eine 2018er Harley Davidson Softtail Street Bob. „Wow", sagte ich begeistert, als ich mir das Bike genauer ansah. Der Benzintank, sowie die Schutzbleche waren kupferfarben lackiert, während die verchromten Auspuffrohre und die verchromte Gabel richtig herausstachen. „Kauf sie dir doch", schlug Allison mir vor und lächelte mich ermutigend an. „Bist du wahnsinnig? Meine Mutter bringt mich um", meinte ich nur und gab ihr den Laptop zurück. Allison seufzte und klappte das Ding zu. „Lässt du dich wirklich so sehr von ihr leiten?" Ertappt zuckte ich mit den Schultern, faltete Leos Brief zusammen und verstaute ihn in meiner Hosentasche. „Sieh mal, du trägst immer noch den Brief mit dir herum, und das obwohl du seit mehr als einem Jahr keinen Kontakt mehr hast." „Ja...aber ich muss das Bike irgendwo melden, ich muss Steuern zahlen, die Versicherung und solange ich nicht volljährig bin, geht das nicht", erklärte ich ihr und seufzte schwer, woraufhin sie das Thema fallen ließ. Immer wieder sagte sie mir, ich solle tun, was ich liebe und wenn ich noch so an der Vergangenheit und an Leo hänge, dann soll ich ihn suchen. Sie ermutigte mich, ich zu sein und mich nicht herumschubsen zu lassen.
Die drei Monate in New York war viel zu kurz, weshalb uns beiden der Abschied ein bisschen schwerfiel, doch ich musste ehrlich zugeben, dass ich mich auf Collin freute, der in unserem Zimmer auf mich wartete. Er hatte extra auf uns gewartete, weil er mir sagen wollte, dass er zusätzlich Jura mit studieren würde, so könnten wir mehr Zeit miteinander verbringen. Allison und ich hatten uns gleich verdutzt angeschaut, hatten uns jedoch schnell wieder gefangen. Wie Collin versprochen hatte, belegte er tatsächlich meine Kurse mit und saß in den Vorlesungen neben mir. Ich fühlte mich ein wenig von ihm bedrängt, doch ich wollte es nicht wirklich zugeben. Auch Allison war so langsam genervt von der Situation, doch auch sie ließ sich nichts anmerken und lächelte ihn immer nur freundlich an. Der 07. Juli war fast da und damit nicht nur der Beginn des neuen Semesters, sondern auch mein, so geliebter, Geburtstag. Ich wurde 19 und ich hasste jede Minute daran, mein Geburtstag war schon lange kein Ereignis mehr, was ich feiern wollte, weshalb ich auch niemandem das Datum nannte. Früher, als mein Dad und mein Bruder noch da waren, feierte ich gern meinen Geburtstag, weil mein Dad abends immer mit mir kuschelte und ich Gummibärchen essen durfte. Doch jetzt war es ein Tag wie jeder andere. Als der Tag der Einschreibung gekommen war, saß Collin, wie bestellt auf meinem Bett, den Laptop auf dem Schoß schon startbereit. Er hatte mir wieder versprochen, dass wir die gleichen Kurse haben würde, woraufhin ich etwas beschämt gelacht hatte. Und als würde Gott mich für irgendetwas bestrafen, schaffte es Collin tatsächlich in all meine Kurse. Das Semester zog sich entsprechend, was aber nicht nur an Collin, sondern auch an meiner mangelnden Begeisterung lag, doch wie versprochen nahm ich Allison in den nächsten Sommersemesterferien mit zu mir.
Zwei Jahre studierten wir bereits zusammen und wir machten gefühlt alles zusammen, weswegen uns unsere Freunde wohl auch immer ‚die siamesischen Zwillinge' nannten.
Allison liebte es hier in Colorado, doch irgendwie fühlte es sich für mich fremd an wieder hier zu sein. Ich fühlte mich hier nicht mehr wie zu Hause und das bemerkte auch Allison, die von sich aus, unseren Trip frühzeitig abbrach und mit mir nach Harvard zurückflog. Sie merkte auch, dass das Studium mir immer weniger spaß machte, dass meine Noten schlechter wurden und ich mich mehr für andere Dinge interessierte.
An einem Samstagmorgen weckte sie mich bereits früh um sieben Uhr, weshalb ich sie mit einem wütenden Blick strafte. „Steh schon auf, es ich wichtig", zischte sie wütend und rüttelte mich. „Allison, nichts ist um diese Uhrzeit wichtig", grummelte ich und drehte mich in meinem Bett rum. „Oh doch. Ich hab nämlich eine Überraschung für dich", meinte sie freudig und zog mir die Decke weg. Müde schleppte ich mich aus dem Bett in die Duschräume, wo ich versuchte mit kaltem Wasser etwas Leben in meinen Körper zu bringen. Nach dem Zähneputzen, kehrte ich in unser Zimmer zurück, in welchem Allison bereits angezogen auf ihrem Bett saß und wartete. „Jetzt mach mal langsam", bremste ich sie, während ich mir eine schwarze Jeans aus dem Schrank nahm, und dazu mein weißes Harley-Davidson-Shirt. „Können wir jetzt endlich los?" Allison war ganz aufgeregt, doch ich hielt sie noch etwas zurück und schlug ihr vor, erst Frühstücken zu gehen. Gemeinsam saßen wir in einem kleinen Bistro, was direkt neben dem Campus lag, und tranken unseren Kaffee. Ich war etwas nervös, weil ich ihr noch etwas beichten musste.
Nachdem mein Kaffee ausgetrunken war, räusperte ich mich und sah auf meine ineinander verschränkten Finger. „Ich muss dir etwas sagen", begann ich und sah sie kurz an. „Schieß los", meinte sie leise und straffte ihre Schultern. „Ich...werde das Studium abbrechen...das...das ist nichts für mich, ich hab da keine Lust mehr drauf...", stammelte ich und starrte auf die Tischplatte, die plötzlich viel interessanter schien. Ich bemerkte ihr wissendes Lächeln nicht. Freundschaftlich legte sie ihre Hand auf meine. „Ich freu mich für dich", meinte sie, weswegen ich sie jetzt anschaute und in ihr strahlendes Gesicht sah. „Du tust das Richtige, glaub mir und ich hab so das passende Abschiedsgeschenk für dich." Sie freute sich tatsächlich über meine Entscheidung, wobei sie aber doch ein klein wenig traurig schien. Gelöst, dass der Ballast endlich weg ist, bezahlte ich und stieg mit Allison in ein Taxi, was uns nach Sudbury brachte, eine kleine Ortschaft, die eine halbe Stunde fahrt von der Uni entfernt war. Wir stiegen aus und sahen uns um, tatsächlich standen wir vor einer alten Werkstatt. „Was machen wir hier? So mitten in der Pampa?" Ich musste lachen, da das Örtchen hier wirklich ausgestorben schien. „Sagte ich doch. Ich hab eine Überraschung." Sie sah auf einen kleinen Zettel, steckte diesen aber sofort wieder weg und bat mich, genau da zu warten, wo ich stand. Wie befohlen blieb ich, völlig verloren, in der Landschaft stehen und wartete darauf, dass sie zurückkam. Das Tor der Werkstatt öffnete sich und ein Mann, ich schätze ihn auf Mitte 40, schob ein Bike aus der Garage, Allison im Schlepptau. Verwirrt sah ich zwischen ihr und dem Mann hin und her. „Ich wusste, dass du das nicht durchziehen würdest, und um dir einen kleinen Anstoß zu geben, hab ich dir die Harley gekauft. Sie ist auf mich gemeldet, du musst dir also keine Sorgen machen", erklärte sie, während der Mann die Harley abstellte. „Ist das?-...." „Eine 1946er Harley Davidson, generalüberholt und aufgehübscht", erklärte der Mann. „Oh mein Gott...Sie ist wunderschön...." Ich sah Allison freudig an. „Ich danke dir", rief ich fröhlich und fiel ihr in die Arme. Vor Freude strömten Tränen aus meinen Augen und ich konnte, nein, ich wollte sie nicht zurückhalten. „Du bist unglaublich", flüsterte ich und löste mich von ihr, um mein neues Motorrad zu betrachten. Sie war nicht so schwer wie meine alte Maschine und besaß einen schlanken, dunkelroten Benzintank, mit Schutzblechen in der gleichen Farbe. Der Motor war komplett neu und wahrscheinlich viermal so stark wie der Originale. Der Originalsitz, samt Feder befand sich noch auf dem Motorrad, zusammen mit einem zweiten Sitz. Ich lief um die Harley herum und entdeckte einen Kickstarter, weshalb sich ein breites Lächeln auf meinem Gesicht ausbreitete. „Und du willst jetzt damit zurückfahren?" Ich sah Allison an, ein breites Grinsen in meinem Gesicht. „Hey, sie gehört dir, du entscheidest", sagte sie und zuckte mit den Schultern. „Aber falls du Lust hättest, ich hab noch zwei Helme dazu bekommen", meinte sie entschuldigend und nahm die Helme aus der Werkstatt. „Bei euch an der Ostküste muss man den wohl aufsetzen", fragte ich scherzhaft, weswegen mich Allison nur in die Schulter boxte. „Aber dir fehlt noch was", bremste sie mich und kramte in ihrem Rucksack. „Ich war so frei in deinem Schrank zu wühlen", sagte sie entschuldigend und zog meine Kutte aus ihrem Rucksack. Sie hielt sie mir auf, weshalb ich in sie hineinschlüpfte und mich direkt wohl fühlte. Endlich war ich wieder komplett, meine Kutte und ich wieder vereint. Mit strahlenden Augen setzte ich den Helm auf und schwang mich auf das Bike. Obwohl es noch der Originalsitz war, auf dem ich saß, war dieser mindestens so bequem, wie der gepolsterte Sitz von Seans Motorrad. Allison setzte sich hinter mich und rückte sich auf dem Sitz zurecht, während ich mit aller Kraft auf den Kickstarter trat und das Motorrad direkt ansprang. „Vielen Dank, Jake, ich glaube das Geschenk ist gut angekommen", rief Allison über den dumpf blubbernden Motor hinweg und wank Jake kurz. „Halt dich fest", sagte ich zu ihr, woraufhin sie ihre Arme um mich schlang und ich Gas gab. Es war ein unbeschreibliches Gefühl, nach zwei langen Jahren endlich wieder auf einem Motorrad zu sitzen, jedoch störte der Helm ein wenig. Viel zu schnell waren wir wieder an der Uni, wo ich mein Motorrad vor unserem Wohnheim parkte und es abschloss.
Ab da ging alles ganz schnell, ich wurde zwanzig, brach mein Studium ab, machte mit Collin schluss und zog mit dem Geld, was ich gespart hatte, nach Oregon. Annie hat mich in der Zeit mental unterstützt, sie hatte meine Mutter und Phil davon abgehalten, sich einzumischen und über mich zu bestimmen. Phil kam der Bitte eher nach, doch meine Mutter war etwas hartnäckiger, aber Annie ließ mich nicht im Stich. Sie gab mir die Nummer von Hank, einem alten Freund von ihr, der mir weiterhelfen sollte. Ich setzte mich mit ihm in Verbindung und er half mir, fuß zu fassen. Ich schaffte es, mir ein kleines Haus in Chemult, eine winzige Stadt im Herzen Oregons, zu kaufen. Dort hatte ich eine Ausbildung zur Mechatronikerin angefangen und arbeitete jetzt in einer Werkstatt. Ich war mittlerweile 22 Jahre alt, hatte mich von meiner Familie abgekapselt und lebte da, wo ich leben wollte, mit dem Leben, welches ich mir wünschte. Bis auf diese eine Sache. In der Zeit meiner Ausbildung bin ich quer durch die Vereinigten Staaten gefahren, nur, um Leo zu finden, doch ohne Erfolg. Es war wirklich so, als hätte es ihn nie gegeben.

Rising SunWo Geschichten leben. Entdecke jetzt