Kapitel 5

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Ich kletterte durch das noch geöffnete Fenster in mein Zimmer und erschrak, als ich die Gestalt im Türrahmen erkannte. Annie stand mit verschränkten Armen und strengem Blick in meiner Tür und beobachtete mich. „Oh...Mist", sagte ich ertappt und legte die Lederjacke aufs Bett. „Hör zu, von mir aus, schleich dich nachts raus, aber sag wenigstens jemandem, wo du bist", mahnte sie, schloss die Tür hinter sich und setzte sich auf mein Bett. „Und jetzt erzähl, hast du ihn wieder gesehen?" Ich begann zu lächeln, ein Lächeln, welches sich zu einem freudigen Grinsen entwickelte und Annie ansteckte. Ich nickte euphorisch und setzte sich zu ihr aufs Bett. „Irgendwie hat er mich schon wieder gerettet", erklärte ich leise, während ich meine Hände knetete. „Wieso das?" „Naja...ich hab mir Seans Motorrad genommen und hatte einen Unfall." „Oh gott, ist alles okay mit dir? Sollen wir dich ins Krankenhaus bringen?" Annie suchte mich sofort nach Wunden und Brüchen ab, tastete meine Arme und meinen Hals, bis ich mich ihr entzog und meine Haare an der Stirn etwas anhob. „Mehr ist es nicht", meinte ich und sah, wie sie sich ein wenig beruhigte. „Wann lernen wir ihn eigentlich mal kennen?" „Nie." Meine Antwort kam vielleicht etwas zu schnell und zu heftig, aber es würde so besser sein. Meine Mum würde mich einsperren. Annie schien zu verstehen und nickte nur leicht, begann dann aber zu gähnen. „Also ich geh jetzt schlafen Süße", kommentierte sie und erhob sich von meinem Bett. „Schlaf gut." Sie schloss leise die Tür hinter sich und ich zog die Lederhose aus und hing sie zusammen mit der Jacke wieder in den Schrank. Müde und ausgelaugt legte ich mich in mein kuscheliges Bett und verschlief den ganzen Sonntag, was mir abends wieder mächtig Ärger einbrachte. „Hey Mum, ich bin am Wochenende auf Jessicas Geburtstagsfeier eingeladen", klärte ich sie auf und aß etwas von dem Brot. „Jessica Walsh?" „Ja, genau die. Sie wird 18" „Und wie lange wirst du bleiben?" Ich verdrehte unauffällig die Augen und rührte etwas lustlos in meiner Suppe herum. „Über Nacht, Mum", erklärte ich etwas genervt und aß einen Löffel. „Dann viel Spaß", meinte sie nur und aß weiter. Manchmal kam ich mir vor wie einer ihrer Klienten, da sie mich mit der gleichen Rationalen Art behandelte wie sie auch. Als ich mit dem Essen fertig war, ging ich in mein Zimmer, um meine Schulsachen vorzubereiten. Ich packte die Blöcke von meinem Schreibtisch in meinen Rucksack und entdeckte mein Handy, darunter Leos Nummer. Ob ich ihn anrufen sollte? Ich nahm den Zettel und betrachtete die krakeligen Nummern darauf. Ein kleines Lächeln breitete sich auf meinem Gesicht aus und doch legte ich den Zettel wieder beiseite und ging in mein Bett. Ich lag die halbe Nacht wach, die Gedanken bei Seans Motorrad, bei Leo, wie er mir geholfen hatte und wie wir dann später am Reservior saßen.
Irgendwann muss ich dann aber doch eingeschlafen sein, denn das verhasste piepen meines Weckers holte mich aus meiner Traumwelt zurück in die Realität. Müde zog ich mich an, nahm mein Zeug und lief nach unten, um dort schnell mein Müsli zu essen. „Du hast es aber eilig", meinte Phil lächelnd. Er fuhr mich früh immer zur Schule, da Mum bereits auf Arbeit war. „Heute kommen die ersten Informationsbögen für das College." Ich schlang mein Müsli regelrecht rein, da ich mir ein tolles Community College raussuchen wollte. „Aber hat deine Mum nicht schon ein College gefunden?" Er nahm mir direkt den Wind aus den Segeln, weshalb ich nur schwach nickte. „Ja...aber ich will nicht nach Harvard", meinte ich leise und rührte das Müsli in der Milch um. „Sophia, überleg dochmal, welche Möglichkeiten du dann hast. So eine Chance bekommst du nie wieder." Ich seufzte, er hatte ja recht, aber Harvard war so weit weg von hier. Weg von Annie, Sean und Dad und irgendwie auch weg von Leo. Ich stellte die Schüssel beiseite und schnappte mir meinen Rucksack. „Wir können los", meinte ich zu Phil, während ich mir meine Boots überzog und an der Haustür auf mich wartete. Während der Fahrt versuchte er weiterhin, mir Harvard schmackhaft zu machen, doch ich hatte schon längst abgeschaltet und war in Gedanken ganz woanders. Ich war noch nicht einmal wirklich in der Schule angekommen, da hatte ich schon keine Lust mehr, vor allem auf den langweiligen Unterricht. In jedem Fach Einsen zu haben klang zwar schön, war aber auch langweilig, wenn man sich nicht einmal anstrengen musste. „Hey Sophia! Wie war dein Wochende?" Jessica kam freudestrahlend auf mich zugerannt, wobei ihre langen, braunen Locken mitwippten. „Eigentlich ganz gut, wie wars bei dir? Sind schon die ersten Gäste da?" „Du glaubst es kaum, aber Tyler ist da. Er ist extra aus Phoenix gekommen", schwärmte sie, wobei sie eine ihre Locken mit ihrem Finger drehte. Tyler war Jessicas Freund seit Beginn der High School, doch dann zogen sie weg und die Beziehung zerbrach, bis sie sich auf eine Fernbeziehung einigten. „Das ist toll, ich freu mich, ihn zu sehen", meinte ich ebenso fröhlich und lief mit ihr ins Schulgebäude. Der Unterricht war bei uns aktuell eher auf Informationsveranstaltungen für College und Prüfungsvorbereitungen geprägt, weshalb es noch langweiliger war als sonst. Mr Hawkins teilte die Informationsprospekte aus, auf welche wir uns stürzten wie ausgehungerte Löwen. Jeder wollte an sein Lieblingscollege, so auch ich. „Oh, Sophia, ich hab hier noch etwas viel besseres für dich", meinte er und holte einen Briefumschlag hervor. Der Stempel von Harvard war darauf und mit einem Mal drehte sich mein Magen herum. „Ich...äh...danke...", stammelte ich und nahm den Umschlag entgegen, riss diesen unsauber auf und las den Brief. „Und?" Mr Hawkins sah mich neugierig an, genau wie all meine Mitschüler. „Sie...laden mich zu einem Bewerbungsgespräch ein...", erklärte ich fassungslos und legte den Brief ab. Ich konnte mich also nicht einmal wehren. Ich weiß, wie kann man nicht nach Harvard wollen, aber ich wollte ein normales Leben. Ein Leben auf einem normalen College, mit normalen Freunden. Ich wollte kein Teil der superreichen sein, die auf privat Colleges gehen. Ich wollte normal arbeiten und keine Klienten in Rechtsfragen vertreten. „Das ist doch toll. Herzlichen Glückwunsch Sophia." Er klopfte mir sanft auf die Schulter und fuhr dann mit seiner Berichterstattung fort. Den restlichen Tag fühlte ich mich, als säße ich in einer Wolke. Die Gespräche waren undeutlich und verschwommen, irgendwie schien mir jeder zu gratulieren, aber am liebsten hätte ich den Brief zerrissen und nie wieder daran gedacht. Zu Hause verkroch ich mich direkt in meinem Zimmer, wie die nächsten zwei Tage auch. Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass sich diese Woche zu einer ziemlich beschissenen Woche entwickelte.
6:00 Uhr. Mein Wecker riss mich wie immer unsanft aus dem Schlaf. Doch heute war meine Laune nicht ganz so schlecht. Jessica hatte heute Geburtstag, das hieß noch drei Tagen bis Freitag warten und dann war ich ein ganzes Wochenende lang weg. Da es heute ziemlich warm war, entschied ich mich für meine hellblauen Hotpants und eine sandfarbene Leinenbluse, welche ich über dem Hosenbund zusammenknotete, dazu weiße, flache Stoffschuhe. Meine Haare band ich zu einem, zugegebenermaßen unordentlichen, Dutt. Gut gelaunt ging ich nach unten, schlang förmlich mein Müsli rein und drängte Phil, mich endlich zu fahren. Jessica hatte die ersten zwei Stunden frei, weshalb ich noch warten musste mein Geschenk zu überreichen. Oh Gott, sie würde sich ja so über die Ohrringe freuen. Ich konnte es kaum erwarten, bis ich sie endlich sah. Die ersten zwei Stunden gingen nur schleppend vorüber, aber als es dann endlich klingelte, stürmte ich aus dem Zimmer und ging auf den Schulhof.

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