Kapitel 3

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„Sophia. Komm es gibt Abendbrot." Ein stetiges Klopfen ließ mich allmählich aus meinem Schlaf aufwachen. Etwas desorientiert sah ich mich um und versuchte zu lokalisieren, wo das Klopfen herkam. „Sophia. Ich bitte dich nicht noch einmal" , mahnte meine Mutter und klopfte in einer fast anstrengenden Beständigkeit gegen die Tür. „Ich komme gleich", rief ich durch die geschlossene Tür und rannte zum Spiegel, um mich zu betrachten. Natürlich hatte ich meinen Bademantel noch an und meine Haare waren komplett zerzaust, weshalb ich sie schnell zu einem halbwegs ordentlichen Dutt band. Hastig wühlte ich in dem Wäscheberg, welcher vor meinem Schrank lag, nach ein paar Klamotten, welche sich zum Abendbrot „schicken" würden. Ich entschied mich schlussendlich für eine normale blaue Jeans und ein hellblaues Blusentop, welches einen sportlichen und eleganten Stil miteinander vereinte. Nach einem prüfenden Blick in den Spiegel ging ich nach unten ins Esszimmer und sah, wie die anderen bereits auf mich warteten. „Entschuldigt bitte", meinte ich leise und setzte mich. „Hi Phil", sagte ich lächelnd, als ich bemerkte, dass seine Krawatte schief saß. Ich folgte meiner Mum mit meinem Blick, wartete, bis sie uns nicht mehr sah und tippte mir leicht auf die Stelle, an welcher bei Männern der Krawattenknoten saß. Phil verstand sofort, zog seinen Schlips fest und richtete ihn. „Danke", flüsterte er und zwinkerte mir kurz zu. Phil, Mums neuer Mann, war okay. Er war wie sie 45 Jahre alt und versuchte nicht, sich als mein Vater aufzuspielen, mal abgesehen davon, dass er das nie sein würde. Er redete normal mit mir, nicht wie meine Mutter, die mich fast nur belehrte und er machte Witze, mit mir und über mich. Er war für mich eher wie ein großer, zugegebenermaßen sehr viel älterer, Bruder. Meine Mum setzte sich zu uns und wartete darauf, dass Maria, unsere Hausdame, das Essen servierte. „Also Phil, wie war's auf Arbeit?" Ich sah ihn fragend an, während ich etwas von dem Hähnchen aß. „Sophia, wann hörst du endlich auf ihn Phil zu nennen?" Meine Mum sah mich tadelnd an, wobei sie ihren Oberkörper immer etwas nach vorn lehnte, was ihr eine etwas bedrohliche Ausstrahlung verlieh. „Lindsey Schatz, das muss nicht sein. Es ist okay, wenn sie mich Phil nennt", er versuchte, die Situation zu entschärfen, indem er seine Hand auf ihre legte und Gott sei Dank, ließ ihre Anspannung etwas nach und sie lehnte sich zurück. „Ich nenn ihn wie ich möchte, er ist immerhin nicht mein Dad", murmelte ich, fast schon bockig und stocherte in meinem Essen. Ja, manchmal verstand ich ich selbst nicht. „Sophia!" Die schrille, wütende Stimme meiner Mutter durchschnitt die Stille und ließ mich zusammenzucken. „Was denn? Ich sag doch nur die Wahrheit. Phil ist nicht mein Dad", verteidigte ich mich und sah meine Mutter wütend an. „Was wagst du dir, dich so aufzulehnen. Geh auf dein Zimmer!" „Liebling, es ist okay", wieder legte Phil seine Hand auf die meiner Mutter, doch sie entzog ihm die ihre nur und funkelte mich weiterhin böse an. Wütend stand ich auf, sodass mein Stuhl nach hinten umfiel und ich mit dem gleichen Schwung wieder in meinem Zimmer verschwinden konnte. Ich knallte die Tür hinter mir zu und warf mich auf mein Bett, wo ich wieder mal, jämmerlich zu weinen begann. Von unten war lautes Geschrei zu hören. Mum und Phil stritten sich mal wieder, mal wieder wegen mir.
Die nächsten Tage verliefen nicht weniger laut, weshalb ich viel Zeit in meinem Zimmer verbrachte und Annie nur selten vorbeisah. Meine Gedanken kreisten die ganze Zeit um Leo, um das Gefühl wieder auf einem Motorrad zu sitzen und wieder zu fahren. Ich sah auf die Uhr. 1:23 Uhr. Mum und Phil schliefen schon und Annie übernachtete bei ihrem Freund. Das Haus war still und, weswegen ich umso leiser sein musste. Vorsichtig stand ich auf und öffnete meine Schranktür, schob all die Kleider und Hosen beiseite und fand schließlich meine Motorradklamotten, die Sean mir damals geschenkt hatte. Ich zog die Lederhose an und warf mir die Motorradjacke über. Meine schwarzen Boots passten gerade so über den Saum der Hose, doch für heute würde es reichen. So schnell, und zugleich leise, wie möglich packte ich Handy, Portmonee und Schlüssel in meinen Rucksack und öffnete das Fenster. Vorsichtig, um nicht abzurutschen, schlich ich über das Dach, hielt mich an der Rinne fest und ließ mich fallen. Etwas unsanft kam ich auf dem Asphalt auf, weswegen ich mir kurz über den Po rieb. Mit dem Schlüssel öffnete ich das Tor zur Garage, was leise summte. Inständig hoffte ich, dass dies nicht schon zu laut wäre. Als das Tor gänzlich geöffnet war, sah ich sie, die Harley meines Bruders. Jedes Mal, wenn er rausgefahren ist, hat er mich mitgenommen, bis er mich schließlich selbst fahren ließ. Er wollte immer, dass ich sie einmal bekomme, wenn er nicht mehr da ist, doch Mum hielt es für zu gefährlich, mich Motorrad fahren zu lassen. Lächelnd schüttelte ich den Kopf. „Heute nicht, Mum." Heute wollte ich mal trotzig sein. Als ob ich das nicht schon die ganze Woche war. Voller Freude schwang ich mich auf das Bike und betätigte die Zündung. Früher hatte mir Sean immer dabei geholfen, den Motor zu starten, doch heute musste ich den Kickstart allein hinbekommen. Mit aller Kraft trat ich auf den Kickstarter, doch der Motor sprang nicht an. Ich brauchte so viele Versuche, dass mich bereits der Mut verließ und ich schon wieder ins Bett gehen wollte. Als der Motor dann doch endlich ansprang, freute ich mich wie ein kleines Kind. Ich klappte den Ständer um, atmete noch einmal tief durch und fuhr los. Es war toll, wieder einmal den Wind in den Haaren zu spüren, die Vibration des Motors unter mir und die nahezu grenzenlose Freiheit. Ich legte mich vielleicht ein wenig zu sehr in die Kurve, dies schob ich allerdings darauf, dass ich ein paar Jahre nicht mehr gefahren war. Ich fühlte mich pudelwohl im Sattel des Motorrads, fühlte mich wieder verbunden mit meinem Bruder, als plötzlich zwei grelle Lichter auf der Straße erschienen. Ich versuchte zu bremsen und lenkte scharf nach links. Die Reifen verloren die Haftung, rutschten zur Seite, ich hinterher, bis das Motorrad auf einen Stein traf und ich mich samt Maschine überschlug und schlussendlich gegen einen Baum prallte. Das Motorrad lag wenige Meter vor mir, der Scheinwerfer verbogen und der Motor qualmte. Angst, Wut und Enttäuschung breitete sich in mir aus, weshalb ich mir am liebsten die Haare gerauft hätte. Ich wurde jedoch von weiteren Motorengeräuschen aufgehalten, die die Straße entlang donnerten. Ein Fahrer der Motorradgang schien mich zu bemerken, weswegen er hupte, um die anderen darauf aufmerksam zu machen. Die Biker drehten rum und fuhren auf mich zu. Weit vor mir blieben sie stehen, sodass sie genügend Licht hatten mir zu helfen. Eine große, breite Gestalt kam auf mich zu. Ich konnte nicht erkennen, wer es war, bis er sprach. „Sophia?" Leo kniete sich zu mir und musterte mich aufmerksam. „Was machst du hier? Du...du blutest." Er deutete auf meinen Kopf, ich fasste mir direkt an die Stirn und tatsächlich, sie war nass. „Ich...war Motorrad fahren und irgendwie bin ich von der Straße abgekommen", erklärte ich schlussendlich und rutschte ein wenig an dem Baum nach oben. „Leo was ist jetzt?" Einer der Männer trat an uns beide heran und machte eine fragende Geste. „Sagt Manny Bescheid, er soll hierherkommen und das Bike holen. Ich fahr jetzt mit euch zurück." Wieder einmal hielt er mir seine Hand hin, welche ich diesmal weniger zögernd ergriff. „Seit wann fährst du Motorrad? Und erst recht so eine schicke Harley...", Neid schwang in seiner Stimme mit, doch er ließ es sich nicht anmerken und half mir stattdessen wieder auf sein Motorrad. Gemeinsam mit der Gang fuhren wir los, eine schwarze Welle, die durch die Nacht rollte. „Das Bike gehörte meinen Bruder, ich durfte immer damit fahren, als er noch lebte." Plötzlich übermannt von der Müdigkeit, legte ich meinen Kopf an Leos Rücken und schloss die Augen. Seine Nähe wärmte mich, wodurch ich mich, inmitten einer Bikergang auf einem Motorrad, unglaublich geborgen fühlte. „Hey Schlafmütze, wir sind da", meinte Leo etwas später und bewegte leicht seine Schulter, um mich aufzuwecken. Immer noch müde öffnete ich meine Augen und sah direkt in seine. „Komm, ich mach dir da erstmal ein Pflaster drauf", bot er an und stieg von seinem Motorrad ab. Ich folgte ihm in eine Werkstatt, die zur Straße hin offen war und mit gelblichen Lichtern ausgeleuchtet wurde. „Setz dich hier her", bot er an und räumte das Zeug auf der Werkbank beiseite, sodass ich Platz hatte. Jedoch musste ich feststellen, dass die Werkbank viel zu hoch für mich war und ich mich somit nicht setzen konnte. Leo kramte in einer Kiste und hielt anschließend das Objekt der Begierde nach oben, als wäre es der Heilige Gral. Er brachte den Verbandskasten mit zur Werkbank und sah mich kurz verwirrt an, ehe er erkannte, dass ich nicht hochkam. Ohne darüber nachzudenken, packte er mich an den Hüften und hob mich auf die Werkbank. Vor Schreck hielt ich die Luft an und sah starr zu Boden. „Du musst mich schon ansehen, dass ich da ran komm", bemerkte er und lächelte mich dabei sanft an. „Ja...okay...", stammelte ich und hob meinen Kopf. Leo tupfte das Blut mit einem sauberen Tuch ab und machte die Wunde sauber. „So...du kannst also Motorrad fahren?" Sein Lächeln wandelte sich zu einem Grinsen und er sah mich verschmitzt an. „Ja, ein bisschen", antwortete ich und ließ mich von seinem Lächeln anstecken. Doch plötzlich kehrten die Gedanken an meine Mutter zurück und damit die Gedanken daran, dass ich gar nicht Motorrad fahren durfte. Ein Seufzen entfuhr mir, weshalb Leo in seiner Bewegung innehielt und mich ansah. „Was ist los?" „Naja...Ich darf eigentlich gar nicht fahren", gab ich verlegen zu und wartete schließlich, bis er das Pflaster auf die Wunde geklebt hatte. „Wieso? Ist doch nicht so, als ob das ein gefährliches Hobby wäre, bei welchem man an dubiose Gangs gelangt", scherzte er und packte die Sachen zurück in den Verbandskasten. „Haha...", sagte ich sarkastisch, „...aber du hast recht. Meiner Mum ist Motorrad fahren zu gefährlich." Ich rutschte von der Werkbank und lief nach draußen auf die Straße.

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