Kapitel 4

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Die Biker schienen eine ganze Siedlung, für sich zu haben. Die Straße war hier zu Ende und bildete eine Wendeschleife, inmitten derer ein Lagerfeuer angezündet war, darum Sessel, Sofas, Bierkisten und Campingstühle zum Hinsetzen. Auf einigen Verandas saßen noch Biker mit ihren Frauen, tranken ein Bier oder rauchten. „Ihr...habt ja hier ne kleine Stadt", sagte ich beeindruckt und sah Leo mit großen Augen an. „Nicht schlecht, mhm?" Er lächelte nur und ging voraus. „Komm, während dein Bike repariert wird, will ich dir was zeigen." Er hielt mir seine Hand hin und als wäre es das selbstverständlichste auf der Welt, ergriff ich sie und ließ mich von ihm führen. Es dauerte wenige Minuten, in denen wir durch den Wald liefen, bis wir am Ufer des Dillon Reservior standen. „Moment...Crown Point...Ihr seid die Gang aus Crown Point?" Ungläubig sah ich ihn an und wartete auf eine Antwort. „Ja, da wohnen wir alle, wieso?" „Mein Bruder wollte in euren Club, Sean Jenkins", antwortete ich aufgeregt und hoffte darauf, dass irgendjemand Sean kannte. „Ja, JJ, er war damals zu jung für uns, aber er hatte echt was drauf", schwelgte Leo in Gedanken und fuhr sich dabei durch den Bart. „Sean war dein Bruder?" Ich nickte, diesmal etwas zaghafter, da doch wieder traurige Erinnerungen in mir aufstiegen. „Tut...tut mir Leid", meinte Leo dann leise und zog mich schließlich noch ein Stück weiter das Ufer entlang. „Was gibt es denn hier?" Ich sah mich neugierig um, als wir an Sentinel Island vorbeisehen konnten, erkannte ich jedoch, was er mir zeigen wollte. Von hier aus hatte man den grandiosesten Blick auf den Staudamm, welcher nachts in stimmungsvollem Licht glänzte. Leo setzte sich auf den Boden, den Blick Richtung Staudamm und die Beine angewinkelt. Ich setzte mich zu ihm, vielleicht ein wenig näher, als ich sollte, und sah auf das klare Wasser des Reservoirs. „Sag mal...", durchbrach Leo die Stille, jedoch ohne seinen Blick vom Wasser zu lösen, „...wie alt bist du eigentlich?" Ich lachte kurz auf und legte meinen Kopf einfach auf seine Schulter, so wie ich es auch immer bei Annie tat. „Wieso? Ist das so wichtig?" „Wenn ich mich auf dich einlasse und dann wegen Missbrauch in den Knast wander schon", meinte er ziemlich ernst, wobei er nervös seine Hände knetete. Ich hatte nicht mit soviel Offenheit gerechnet, weshalb ich mich erst kurz sammeln musste, ehe ich ihm antwortete. „Ich...bin 17", sagte ich leise, so leise, dass er es nur mit Mühe verstanden haben muss. „Mhm", brummte er nur und stellte seinen Arm hinter mir ab, sodass ich an ihm lehnte. „Und du?" Wir beide starrten immer noch auf das Wasser, lauschten dem Rauschen des Damms und dem Quaken der Frösche. Leo lachte wegen meiner Frage und sah mich dann endlich an. „Wieso? Ist das so wichtig?" Ein breites Grinsen breitete sich auf seinem Gesicht aus und schwang dann in Lachen um. „Du Idiot", ich stieg in sein Lachen ein und boxte ihn in die Seite, woraufhin er kurz zusammenzuckte, „das war mein Text." Durch unser Lachen hielten die Frösche inne und nichts fühlte sich gerade schöner an, als hier mit ihm zu sitzen und gemeinsam Spaß zu haben. Er legte seinen Arm um meine Schulter und zog mich ein Stück zu sich heran. „Schicke Klamotten hast du übrigens", bemerkte er und blickte an mir herunter. „Ein Geschenk von meinem Bruder." Wehmütig rieb ich über das abgewetzte Leder und doch lächelte ich, da dies die tollsten Erinnerungen an meinem Bruder waren, die ich noch hatte. „Aber du hast meine Frage noch nicht beantwortet", drängte ich, ließ die Jacke los und sah ihn an. „Ich beantworte sie dir irgendwann, versprochen, aber nicht jetzt", meinte er und sah wieder auf das Wasser. Innerlich war ich ein wenig gekrängt, dass er aktuell mehr über mich wusste, als ich über ihn. „Hey...Leo, das Bike ist fertig, waren nur kleine Sachen", durchschnitt eine fremde Stimme die Stille, weshalb Leo und ich sich rumdrehten. „Alles klar, danke dir Guz", meinte Leo und erhob sich anschließen, nur, um mir wieder mal seine Hand zur Hilfe zu reichen. Dankend nahm ich sie an und ließ mir von ihm auf die Beine helfen. „Ich begleite dich nach Hause", bot er an und lief mit mir zurück zur Siedlung. „Ich hätte nicht gedacht, dass ein Biker auch ein Gentlemen sein kann", bemerkte ich und schmunzelte ihn an. „Hey, das eine schließt das andere nicht aus. Viele von uns haben einen weichen Kern", erklärte er, half mir über die Wurzeln und hielt die Äste beiseite. Ich lächelte über seine Fürsorge, auch wenn ich ganz gut auf mich allein aufpassen konnte, war es schön, wenn sich jemand mal um einen kümmerte. In der Siedlung angekommen, stand tatsächlich Seans Bike vor der Werkstatt und es sah aus wie neu. „Das ist ja der Wahnsinn, danke", ich war außer mir vor Freude und umarte Leo kurzerhand, welcher mich dann doch etwas verlegen von sich wegschob. Erst war ich ein wenig verwirrt, bemerkte dann aber die große Gestalt, welche an dem Bike stand und uns beobachtete. „Jemand will dich kennenlernen, sehen, ob du zu uns passt", sagte er leise und schob mich sanft zu der großen Gestalt. Die Gestalt entpuppte sich als der muskulöse, blonde Mann, mit der tiefen Stimmen. „Ich bin Rickie Wilcons, aber man nennt mich Ranger", stellte er sich vor, wobei mir seine Stimme wieder einen Schauer über den Rücken jagte. „Sophia Jenkins", antwortete ich aufgeschlossen und hielt ihm meine Hand hin, welche er dann fasste und sie schüttelte. „Jenkins...Hast du Geschwister?" „Ich hatte einen Bruder, Sean. Er...er wollte vor ein paar Jahren mal eurem Club beitreten", antwortete ich und ließ meine Hand wieder sinken. Irgendwie fühlte ich mich nicht wohl unter seinem Blick, was Leo nicht anders zu gehen schien. „Mhm...Tut mir Leid", nachdenklich kratzte er sich am Kinn, „wie alt bist du?" „17", gab ich direkt zurück, ohne wie vorhin blöde Witze zu machen. Ranger sah kurz zu Leo und nickte unauffällig, zumindest sollte es unauffällig sein, und plötzlich konnte man sehen, wie Leo eine kleine Last von den Schultern fiel. „Ich wollte sie gerade nach Hause begleiten", schaltete sich Leo wieder ein, weshalb Ranger, den Weg zu meinem Motorrad freigab. „Passt auf die Straße auf", brummte er nur, drehte sich rum und verschwand in einem der Häuser. Leo stieg auf und startete den Motor, während ich noch mit aller Kraft versuchte, den Kickstart hinzukriegen. „Brauchst du Hilfe", fragte er lachend und beobachtete die Szene amüsiert. „Vergiss es", fauchte ich fast und trat mit meinem ganzen Gewicht auf den Kickstarter, woraufhin der Motor ansprang. Mit einem Lächeln auf den Lippen hob Leo abwehrend die Hände und rollte langsam los. „Ich hab nichts gesagt", meinte er amüsiert und fuhr schlussendlich los. Ich betätigte das Gas und folgte ihm dicht. „Du...Ranger..." „Was ist mit ihm?" Er unterbrach mich und sah kurz zu mir. „Er ist irgendwie....", ich suchte nach einem passenden, wenig beleidigendem Wort, „...unheimlich." Leo lachte laut, sodass ich das Gefühl hatte, es sogar durch die Motorengeräusche klar zu hören. „Er ist mein Bruder", klärte er mich auf und sah wieder auf die Straße. „Was? Ihr seht euch nichtmal ähnlich", fragte ich ungläubig und gab ein wenig Gas, um aufzuholen. „Okay, mein Halbbruder, aber wir sind zusammen aufgewachsen und haben ziemlich viel Scheiße zusammen erlebt, das schweißt zusammen." Es dauerte nicht mehr lang, dann waren wir auch schon an meinem Haus angelangt, weshalb wir die Motorräder die letzten Meter schoben, um niemanden zu wecken. Leo half mir, die Harley wieder in die Garage zu schieben und als ich das Tor schloss, sah er irgendwie ziemlich verloren aus in unserer großen Einfahrt. „Ihr habt ein ganz schön großes Haus", meinte er leise und deutete mit seiner Hand auf die Villa vor ihm. „Das ist nicht immer schön", gab ich ehrlich zu und stellte mich etwas verlegen neben ihn. Wie wir uns wohl verabschieden würden? Würde er mich küssen? Oder mir nur die Hand geben? „Hey...ähm, wenn ich dich mal wieder aus dem Straßengraben sammeln soll...ruf mich doch einfach an", sagte er und hielt mir einen kleinen Zettel hin, auf welchem eine Telefonnummer stand. Lächelnd nahm ich den Zettel entgegen und tippte schnell die Nummer in mein Handy. „Keine Sorge, ich hab dir die richtige Nummer gegeben, die anderen vier Frauen haben andere Nummern", meinte er ernst, doch als mir kurz das Gesicht einschlief, fing er an zu lachen. „Du bist so ein Idiot", zischte ich leise und piekte ihn mit meinem Finger. „Au, verdammt, das tat weh", maulte er. „Geschieht dir recht." Ich konnte mir ein Lächeln nicht verkneifen und schloss schlussendlich meine Arme um seinen muskulösen Körper. Er legte seine Arme um mich und hielt mich einfach nur fest. Ich hätte direkt einschlafen können, seine Wärme, sein Geruch, seine Anwesenheit ließen mich so wohl fühlen, dass ich ihn am liebsten mitgenommen hätte. „Wir sehen uns Sophia", meinte er leise und löste sich aus der Umarmung. „Ja...Bis irgendwann", sagte ich leise und ließ seine Hand los, die ich bis eben noch festgehalten hatte. Leo stieg auf sein Motorrad, stieß sich ab und rollte erst ein Stück die Straße entlang, ehe er den Motor anließ und wegfuhr. Ich sah ihm hinterher, bis er wieder hinter der Kurve verschwand, da wo gerade die Sonne aufging. Die Landschaft wurde in ein sanftes Gelb gehüllt, welches sich langsam zwischen den Bäumen ausbreitete. Ich kletterte auf das Vordach, zog die Lederjacke aus und setzte mich, um den Sonnenaufgang hinter den Bergen zu beobachten.

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