6. Überrumpelter Abschied

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MAJA

"Na gut, ich mache es auch", ertönte Bens entschlossene Stimme neben mir.

Erstaunt blickte ich ihn an. Ich hatte nicht erwartet, dass die anderen meinem Beispiel folgten.

"Ich mach es auch", meldete sich Alex zu Wort. Auf seinem Gesichtsausdruck konnte ich blanke Neugier und Begeisterung erkennen. Ben jedoch sah eher so aus, als würde er nicht glauben, dass es den Fluch wirklich gab. Kein Wunder, ich selbst zweifelte auch.

Unsere Blicke wandten sich Angelina zu. Ich bemerkte sofort, dass sie den Brauch nicht machen wollte, doch zu meiner Überraschung stimmte sie ebenfalls zu.

"Ihr müsst das nicht machen. Wirklich nicht." Ich musterte die Gesichter der anderen, sie ließen sich nicht umstimmen.

Diese Tatsache, also das Angi sehr auf ihrer Meinung behaarte, bereitete mir manchmal Frust.

"Na dennne. Kommt her. Einer nach 'm ander'n.

Die drei bildeten eine Reihe und schworen nacheinander. Während sie beschäftigt und Jacko somit abgelenkt war, streckte ich meine Hand aus. Bevor ich aber das Buch berührte, schnellte Jackos Blick zu mir und meiner Hand.

"Wollst's etwa klauen, huh?", schnauzte er mich an.

"Äh ähm nein. Ich wollte nur äh einen Blick reinwerfen. Was steht denn da drin?"

Ich unterdrückte mein Zittern, als Jackos Blick mein Gesicht nach Anzeichen einer Lüge absuchte. Meine Worte stimmten ja, ich wollte ein bisschen im Buch herumschnuppern, nur ließ sich das besser erledigen, wenn Jacko mich dabei nicht erwischte.

Angi rettete mich aus der unangenehmen Situation, indem sie in die Luft zeigte und schrie: "Oh seht nur, das Riesenrad leuchtet so schön!"

Alex sprang auf den Zug auf.

"Oh ja. Und wie lustig sich die Schreie der Kinder anhören."

Auch Ben kapierte das Ablenkungsmanöver.

"Uhh, ich glaube, ich kenne dieses Lied. Ihr auch? Wie hieß das nochmal?"

"Rhythm Is A Dancer!", schrie Angi. "Ich liebe dieses Lied!"

"Ich auch. Eines meiner absoluten Lieblingslieder."

Bevor irgendwer anders reagieren konnte, ergriff Benjamin meine Hand und begann zu tanzen.

Ich bewegte mich ebenfalls zur Musik. Wir shuffelten und kamen blitzschnell aus der Puste, jedoch machte es so viel Spaß, dass wir bis zum Ende des Liedes tanzten.

Jacko hatte sich in der Zwischenzeit auf Angelina und Alex konzentriert.

Als auch sie den seltsamen Schwur hinter sich gebracht hatten, wünschte uns Jacko viel Glück.

Ich überlegte, ob ich ihm Fragen stellen sollte, doch mir fielen keine ein, weil ich der Geschichte zu sehr misstraute.

Jacko bestand darauf, uns allen die Hand zu schütteln. Während er dies bei mir tat, flüsterte er mir ins Ohr: "Ich danke dir für d'n Mut und deine Hilfe. Viel Glück wünsch ich dir im alten Haus. Viel Freude beim Austritt."

Dann schüttelte ich meine Hand ab. Als er gerade Alex Hand zu sich zog, schweifte mein Blick wieder zum Buch, das nun unbewacht ein paar Schritte neben Jacko im Gras lag und ein paar Schneetropfen abbekam. Bevor ich dem Drang widerstehen konnte, beugte ich mich und hob das geheimnisvolle Buch auf. Zeitgleich befreite Alex seine Hand aus dem Griff Jackos.

Als dessen Blick umherstreunte und mich erfasste, wirbelte ich herum und rannte.

Mein erster Diebstahl und ich war nicht gerade stolz. Man sollte auf keinen Fall klauen. Sobald ich an Tempo gewonnen hatte, bereute ich meine Tat zutiefst. Ich hatte etwas gestohlen, was würden meine Eltern dazu sagen? Würden sie es herausfinden? Würde Jacko mich anzeigen?

Eine Träne lief mir übers Gesicht. Aus einer wurden zwei und drei, nach wenigen Sekunden strömten ganze Bäche Tränen über meine Augen. Ich konnte kaum etwas sehen. Nicht nur, dass meine Augen vom Wasser verschleiert waren, die Dunkelheit und der mittlerweile heftige Schneefall trugen nicht zur Besserung der Sicht bei. Die Lichter der Fahrgeschäfte und der Lampen strahlten nicht weit.

Durch diese kurzzeitige Blindheit rempelte ich Leute oder Gegenstände an, erstere fluchten und beschimpften mich, oder stolperte. Als ich genauer hinhörte, erklangen die Stimmen von Angi, Alex, Ben und Jacko hinter mir.

Meine Freunde riefen meinen Namen, Jacko rief Sachen wie: "Wenn'ch dich kriege, du Göre. Du hast mir mein wichtigstes Besitzstück geklaut. Gib's zurück!" Natürlich verschluckte er hierbei wieder einen Haufen Buchstaben.

Alex holte mich als erster ein.

"Wieso hast du das getan? Du kannst einem alten Herrn doch nicht so etwas Wichtiges und Privates klauen. Vielleicht ist es sein Tagebuch!"

Er schnappte häufig nach Luft, redete aber weiter auf mich ein.

"Bitte gib es Jacki zurück. Da steckt bestimmt sein ganzes Leben drin, Mann."

Wenn das so war, hatten wir ja Glück.

"Er heißt Jacko, nicht Jacki", korrigierte ich ihn.

"Er ist nett. Also habe ich ihm einen Spitznamen verpasst."

Ich zog Alex hinter die nächste Bude. Hoffentlich fanden Angi und Ben auch ein geeignetes Versteck.

"Du vertraust ihm? Ernsthaft?"

"Äh, ja, warum nicht? Er ist ein bisschen komisch und hat es wohl mit Ritualen, aber sonst finde ich ihn sympathisch. Er kann Geschichten erzählen. Tatsachen, die er selbst erlebt hat. Er erzählt Vergangenheit. Die, die das noch tun könnten, sind meist schon verstorben, deshalb finde ich ihn interessant."

"Aber das, was er erzählt hat, klingt nicht gerade glaubwürdig."

"Vielleicht hat er etwas dazugereimt, aber wir kennen das alte Haus. Das gibt es wirklich!"

"Aber-", setzte ich an, doch Alex unterbrach mich.

"Wieso glaubst du ihm denn nicht?"

Er zog gespannt eine Augenbraue nach oben, er wollte diese Auseinandersetzung gewinnen.

"Er hat etwas zu verbergen. Er hat Geheimnisse. Er ist gruselig."

"Erstens: jeder hat Geheimnisse. Zweitens: Er ist nicht gruselig", widersprach er mir.

"Aber er hat so eine Ausstrahlung. Ich glaube ihm einfach nicht." Ich traute mich, vorsichtig um die Ecke zu lugen, doch in dem Tumult konnte ich weder Angelina noch Benjamin noch Jacko ausmachen.

"Ich finde, er hat eine nette Ausstrahlung."

"Warum vertraust du ihm?"

"Warum vertraust du Ben?"

Diese Frage ließ mich meinen Mund offen stehen. Ich kannte ihn auch erst seit ein paar Stunden, doch ich mochte ihn. Ich glaubte, ich hatte mich direkt beim ersten Anblick in ihn verliebt. Und gegen Liebe konnte man nichts machen.

"Oke, wir haben verschiedene Meinungen zu ihm, belassen wir es dabei. Aber ich werde ihm das Buch heute nicht zurückgeben. Da steht etwas drin, was für uns wichtig sein könnte. Bitte. Wenn du Angi voll und ganz vertraust und ich weiß, dass du das tust, dann vertraue mir auch. Bitte." Mehr konnte ich nicht herausbringen, da mich jemand am Handgelenk packte.

"Wo ist es?", knurrte eine tiefe Stimme hinter mir. Diesmal sprach Jacko die Worte sehr klar und deutlich aus, ohne Buchstaben oder gar Silben zu verschlucken.



Das alte HausWo Geschichten leben. Entdecke jetzt