4. Der Geschichtenerzähler Jacko

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"Du weißt schon, dass das ein bisschen früh wäre, aber wenn wir uns besser kennen, würde ich dich zurückküssen."
"Du bist so süß."
Ich funkelte ihn böse an.
"Ich. Bin. Nicht. Süß."
"Doch. Klein und süß."
Ich drehte mich weg und ignorierte sein Tippen auf meiner Schulter.
Er stand auf und lief um mich herum, sodass er vor mir stand.
Er hockte sich hin, um mir in die Augen schauen zu können.
"Süß zu sein ist nichts Schlimmes. Und ich weiß, dass du mich auch magst."
Wir benahmen uns wie im Kindergarten. Plötzlich streckte er seine Hände aus und kitzelte mich.

Vergeben und vergessen, obwohl er mich süß genannt hat. Das war eine Beleidigung höchsten Grades.

Ich lachte, bis er aufhörte.
"Unsere Pizza kommt."
Erwartungsvoll schaute ich auf und sah tatsächlich einen Angestellten auf uns zulaufen, zwei Teller in seinen Händen.

Ich und Angi hatten uns nichts zu trinken bestellt, weil wir wussten, wie räudig das Klo war. Wenn wir viel trinken würden, müssten wir früher oder später auf die Toilette.
Ben hatte sich ein Glas Wasser bestellt und Alex eine Cola.
Die Teller wurden vor uns abgestellt.
"Guten Appetit. Lasst es euch schmecken."
Wir bedankten uns und keine Sekunde später stopften wir uns die ersten Stücke in den Mund.

Zwischendurch fütterten sich Alex und Angelina gegenseitig.
Wieder beneidete ich die beiden um ihre süße Beziehung.

Die Atmosphäre befand ich als sehr schön. Wir saßen an einem Tisch vor einem Restaurant, aßen leckere Pizza und lachten, beobachteten die Tänzer und die Sänger, begutachteten die Buden mit Essen, Trinken, Mützen und Schals, Schmuck und anderen Sachen, sahen Kindern zu, wie sie in Fahrgeschäfte stiegen, während Eltern sich bei Ständen mit Gewürzen herumtrieben oder Geschichtenerzählern ihre Aufmerksamkeit schenkten, hörten gute Lieder und genossen den Schnee, der vereinzelt auf unsere Haare und Mützen fiel.

Nachdem wir die Pizza verschlungen hatten, schlenderten wir über den Markt, Alex und Angi natürlich händchenhaltend.

"Weißt du, irgendwann werden wir ein genau so süßes Paar sein." Benjamin schenkte mir ein bezauberndes Lächeln.

"Bestimmt. Aber erst einmal sollten wir uns richtig kennenlernen."

Wir folgten Angelina und Alex zu einem Baum. Unter diesem saß ein Mann auf einer Decke und murmelte Wörter vor sich hin. Er wirkte so alt wie mein eigener Vater, sah aber viel älter aus. An einem Ast des Kastanienbaumes hing ein Schild mit der Aufschrift "Geschichtenerzähler". Eine Gruppe brabbelnder Menschen entfernte sich gerade von dem Mann. Ich hörte, wie sie sagten, dass der Mann ihnen interessante Geschichte über seine Vergangenheit erzählt hat.

Soweit ich wusste, interessierte Alex sich für Geschichte, egal ob es sich dabei um die Entstehungsgeschichte von Hunden oder über die Vergangenheit unserer eigenen kleinen Stadt Schneening handelte, er glühte förmlich.

Somit wunderte es mich nicht, dass wir uns nun in einem Halbkreis gegenüber dem Erzähler setzten und Alex ihn ansprach. "Äh, hallo. Ich mag Geschichte sehr gerne und dachte, Sie können uns ein paar Geschichten erzählen oder so." So selbstbewusst er auch vor Angelina und seinen Freunden auftrat, so schüchtern verhielt sich Alex im Umgang mit fremden Menschen. Er hatte großen Respekt vor Erwachsenen.

"Na endlich einer, der mir zuhör'n will. Ich bin der alte Jacko." Er ließ seinen Blick durch unsere kleine Runde gleiten. Es verwirrte mich, dass er sich selbst als alt bezeichnete. 

Sein etwas ergrautes Haar und sein faltiges Gesicht mit den müden Augen konnte man nur schwer im Schein einer kleinen Lampe erkennen, die vor Jacko auf dem Boden ruhte.

"Ich kenn diese Stadt schon ein'ge Jahre und sag euch, hier ist nun kaum etw's Spannendes passiert, seit ich hier leb. immer wieder dasselbe. Immer wieder Leute, die man schon ewig kennt, sehn. Immer und immer wieder. Haut ab, sobald ihr könnt. Genießt euer Leben woanders. Schreitet hinaus in die Welt, denn hier in diesem langweilign Schneening ist schon seit 'n paar Jahren nichts passiert. Nur einmal, da war ich so alt wie ihr ungefähr, da ist's passiert. Etwas, ja etwas Ungewöhnliches. Es gibt da dieses alte Haus, das kennte doch, oder?"

Jacko schaute uns an, wartete auf ein Zeichen, wir nickten. Jeder in unserer kleinen Stadt wusste etwas mit dem Begriff altes Haus anzufangen.

"Nun, wir dacht'n, es wär 'n ganz normales Haus. Ham uns nichts dabei gedacht, wusst'n nicht, dass es darin spuckt, dass das Haus verflucht ist. Konnten 's nicht glauben. Könnt ihr's auch nicht glauben. Doch es ist wahr. Hab's selbst erlebt. Wir waren da, in dies'm Haus, ganz plötzlich. Wusst'n nicht, wie wir hingekomm' war'n. Ich und meine Freunde. Fünfe insgesamt. Wir wurden ausgewählt, um aus dies'm verfluchten Haus zu gelangen."

"Was hat es mit diesem Fluch auf sich? Wie funktioniert er?", fragte ich. Wir alle hingen an seinen Lippen. Ich saß neben ihm, Jacko konnte mich nur sehen, wenn er seinen Blick nach rechts wandte. Ich könnte ihn berühren. Ich musste nur meine Hand ein wenig ausstrecken und schon würde ich das Buch berühren, dass er halb unter einer Jacke versteckt hielt. Seine Hand strich ab und zu über dieses Buch. Es sah aus wie ein Taschenkalender oder ein Notizheft.

"Der Fluch. Tja, es ist so, dass man dies'n Fluch auf sich hat, sobald man auserwählt wurde. Man kann sich nur von dies'm Fluch befrei'n, wenn man dies'n Fluch überträgt. Und die übertrag'n den Fluch weiter und so weiter."

"Aber was passiert, wenn man diesen Fluch nicht weiterverbreitet?", sprach Alex meine Gedanken aus. Mein Blick fiel schon wieder auf das Buch, während die anderen gebannt den Erzählungen von Jacko lauschten. Was hatte es mit diesem Buch auf sich? Stand da etwas drin, was er uns verheimlichen würde? Vielleicht kam er später auf dieses Buch zu sprechen. Vielleicht benutzte es Jacko auch als ganz normales Notizheft.

"Wenn man d'n Fluch auf sich behält, dann muss man nach 'm Tod für immer und ewig im Haus herumirr'n. Jeden Tag dieselb'n langweilig'n Räume, die man irgendwann in und auswend'sch kennt und jeden Tag kein Ausgang. Nachdem ich da drinne war, ist dad die schlimmste Vorstellung in meinem Leb'n. Will nicht sterben und danach in 'nem Albtraum leb'n. Ich kann mir vorstell'n, dass ihr mutig genug seid, um aus dies'm Haus zu geangen und den Fluch auf eusch zu nehmen."

Meine Augen wurden wie magisch von diesem Buch angezogen, als würde ein Teil von mir spüren und wissen, dass dieses Buch wichtig war.

"Was geschah mit den vier anderen?", wollte Alex wissen.

"Wir ham uns gestritt'n. Ham nich zusamm' gehalten, ham uns getrennt. Ich bin allein weiter und hab den Ausgang gefunden. Die anderen sind tot. Nie gefunden worden."

Der Vorteil, wenn man kleine Geschwister hat, besteht darin, dass man irgendwann erkennt, wann sie lügen und wann nicht. Man kann es an denen üben und das Aufspüren einer Lüge im Gesagten perfektionieren. 

Die letzten Sätze von Jacko waren definitiv gelogen. Wie er geguckt hat, wie er sich auf die Unterlippe gebissen hat und plötzlich angefangen hat, auf das geheimnisvolle Buch zu klopfen - sehr schnell und unregelmäßig.

Jacko verheimlichte uns also etwas, das stand fest.



Das alte HausWo Geschichten leben. Entdecke jetzt