19. Brücken und Leitern

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MAJA

"Das sind so viele Brücken und Seile und Netze."

Ich holte das Tagebuch aus der Beuteltasche, des Pullovers, in der das Buch gerade so Platz gefunden hatte und schlug es auf. Nachdem ich ein paar Momente geblättert hatte, entdeckte ich die Stelle, bei der ich zuletzt gelesen hatte.

Ich überflog die Worte, als Finn plötzlich sprach. "Zwei Seiten weiter." Erstaunt blickte ich ihn an. "Woher weißt du das?" "Ich kenne den alten Jacko schon sehr lange und er liest ständig in diesem Buch. Da ist es ja nur logisch, dass ich neugierig bin und über seiner Schulter mitgelesen habe. Mittlerweile kenne ich das Buch fast auswendig."

Ich bedankte mich und schlug die zwei Seiten um, dann las ich laut vor: "Der Trampolinweg führte uns in einen steinernen Raum. Vor mir zankten sich Karl und Dennis. Karl behauptete, dass der Mathehefter schon immer blau und der Deutschhefter schon immer rot gewesen war, sein bester Freund allerdings meinte, dass Rot zu Mathe und Blau zu Deutsch gehörte. Ich schloss mich der Meinung von Dennis an."

"Was?! Mathe war schon immer blau!", unterbrach mich Ben. "Wie kann Jacko nur das Gegenteil behaupten?"

"Bist du verrückt? Mathe ist rot. Du stimmst mir doch zu, oder Alexlein?" Angi wusste zu zu gut, dass ich Ben zustimmen würde, wir hatten diese Diskussion schon mehr als einmal geführt.

"Ich in auf Bens Seite", sagte ich und wandte mich wieder dem Buch zu, während die anderen, Finn hatte sich auch in diese Auseinandersetzung eingeklinkt, stritten und ihre Meinungen bekundeten.

Wir stiegen auf die nächste Brücke und gingen diese entlang, bis direkt unter uns die nächste Brücke unseren Weg kreuzte. Wir stiegen über das Geländer und seilten uns dann vorsichtig ab. Annastasia kam als erste auf der anderen Brücke an, wie auch nicht? Sie war nicht nur wunderschön, sondern auch sportlich und schnell. Diese Brücke liefen wir entlang, bis der Untergrund von dieser bröckelig wurde und Fiona, die Jüngste unserer Gruppe, mit ihrem Fuß einsank. Mit vereinten Kräften halfen wir ihr, doch gegen ihren verletzten Knöchel konnten wir nichts ausrichten. So humpelte sie weiter. Wir nahmen die nächste Leiter nach unten und gelangten dann zu einer Treppe.

"Nein, der Musikhefter ist gelb!", rief Angi gerade. Da hatte ich sogar dieselbe Meinung. "Äh nein?! Musik ist lila", widersprach Finn.

"Hey, Leute, Jacko hat uns eine super Anleitung dagelassen. Wir müssen der nur folgen." Mit dem Buch zeigte ich in die Luft. Nach dieser kurzen Unterbrechung nahmen die drei ihren Streit wieder auf, liefen mir aber hinterher. Jedoch achteten sie nicht auf den Weg. Angi tappte rückwärts und gestikulierte mit ihren Händen, während sie den anderen bei ihrer Meinung zum Kunsthefter widersprach. Ich schüttelte nur belustigt den Kopf und begann, die Leiter herunterzuklettern.

Ich blendete die Geräusche der anderen aus, bis ein Schrei erklang. Schnell zuckten meine Augen nach oben. Angis einer Fuß schwebte in der Luft und vor Schreck hatte sie die Strickleiter mit einer Hand losgelassen. "Das geschieht dir Recht, du mit deinem gelben Musikhefter." Finn spuckte das vorletzte Wort regelrecht aus, bevor er Angi auslachte. Ben, der direkt hinter ihr auf der Leiter stand, half Angi mit der Hand, dabei geriet er selbst ins Schwanken, doch er richtete sich wieder auf. Dann hob Angi ihren Fuß wieder auf die Strickleiter und es konnte weitergehen.

Das hatten sie davon, wenn sie der Sache nicht genug Aufmerksamkeit schenkten, doch ich war unheimlich froh, dass Angi nichts passiert war.

Wir erreichten die Treppe, ich genoss das Gefühl des festen Bodens unter meinen Füßen. Wir stiegen die Treppe hinunter. Ich machte meine Taschenlampe an und beleuchtete den Weg, als Finn kam und mir Gesellschaft leistete.

"Hallöchen, Majöchen." Ich verdrehte lächelnd die Augen. "Halli, Finni", schlug ich zurück, natürlich nur mit Worten. Das Licht der Taschenlampe zeichnete gruselige Schatten an die Wände, doch ich schreckte nicht zurück. Heute musste ich ganz stark bleiben. Und mutig. So wie meine Schwestern sich das immer wünschten. Jeder in dieser Gruppe musste stark bleiben und sein Bestes geben, damit wir hier herauskamen und unsere Familien wiedersahen. Ich vermisste auch meine Nachbarin, die Maggie mit ihrem Hund Oskar. Sogar bei meinen nervigen Kurskameraden wäre ich jetzt lieber als hier.

Die Treppe endete, als eine Brücke den Weg abschnitt. Ein Blick in Jackos Tagebuch sagte mir, dass wir noch immer auf dem richtigen Pfad wandelten.

Ich testete mit einem Fuß, ob die Brücke bei Gewicht einstürzte, dann setzte ich einen zweiten auf das Holz. Es passierte nichts. "Ich suche mal nach Löchern." Und schon war Finn weg. An seiner Stelle trat Benjamin neben mich. "Habt ihr denn schon aufgehört zu streiten?", fragte ich. Mit Angi konnte eine Auseinandersetzung sogar mehrere Stunden dauern. Wenn sie also mit einem Lehrer am Anfang der Stunde eine Diskussion begann, konnte man seine Sachen schon einpacken und den Unterricht verlassen. Wenn es drauf ankam, hatte Angi so viele Argumente bereit, dass die Lehrer nicht selten völlig überfordert waren.

"Jap, unsere Meinungsverschiedenheit ist vorbei. Kann ich dich was fragen?" "Ja klar, was denn?"

"Wieso siehst du nur so unfassbar schön aus? Ich kann mich auf nichts anderes konzentrieren, sobald meine Augen einen Blick auf dich erhaschen." Er strich mir eine rotblonde Haarsträhne hinter das Ohr. Awww süß, ich schmolz dahin. "Du siehst auch einfach nur umwerfend aus." Ich belichtete ihn mit der Taschenlampe und fing fast an zu sabbern, als ich ihn musterte. Ich wusste, wie er aussah, doch ich konnte nicht genug von dem Anblick seiner blonden Locken oder den sanften braunen Augen, die meinen Blick suchten, bekommen. Wenn ich mich entscheiden müsste, einen Tag vom Eiffelturm in Paris die Aussicht zu genießen oder einen Tag Ben zu beobachten, ich würde Letzteres wählen. Ben kreiste zweimal seine Schultern rückwärts. War dies ein Zeichen von Nervosität? Wenn bei mir die Angst zuschlug, knetete ich meine Finger und konnte kaum damit aufhören. Bevor ich nachdachte, was ich tat, stellte ich mich auf Zehenspitzen und gab ich Ben einen Kuss auf die Wange, bevor ich den Weg fortsetzte. Mein Grinsen konnte mir niemand aus dem Gesicht lösen. Seine Wange hatte sich so weich angefühlt, wie würde ich wohl eine Berührung seiner Lippen empfinden? Würde mein Magen auch Purzelbäume schlagen so wie jetzt?

Konzentriere dich.

Ich nahm das Buch wieder in die Hand und las die nächsten Zeilen durch. Jacko sprach von einem Fenster, daraufhin blickte ich mich um und suchte ein Fenster. Ich riss meine Augen auf, als ich tatsächlich eines entdeckte. War das der Weg in die Freiheit?


Das alte HausWo Geschichten leben. Entdecke jetzt