13. Ein ganz normaler Abend

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MAJA

Bei der nächsten Kreuzung stellten wir fest, dass unsere Wege sich trennten. Traurig schaute ich Ben an und suchte nach einer Regung in seinem Gesicht. Würde er mir zum Abschied die Hand reichen oder mir einen High Five geben? Würde ich diesen tollen Jungen je wiedersehen?

"Du hast dir auch wirklich die richtige Nummer aufgeschrieben?", hakte Ben nach. "Ja, ich glaube. Wenn nicht, kannst du ja morgen um zehn in die Bibliothek  kommen und sie mir nochmal aufschreiben."

"Auch wenn ich dich erreiche, werde ich trotzdem morgen in die Bibliothek kommen." Als er das sagte, bewegten sich meine Mundwinkel nach oben. "Ich möchte dich auf alle Fälle wiedersehen, denn ich mag dich irgendwie."

"Ich mag dich auch. Aber nicht nur irgendwie, sondern ganz", sagte ich.

Es fühlte sich komisch an, jemandem meine Gefühle zu beichten, der nicht zu meiner oder Angis Familie gehörte, doch es erleichterte mich. Ich würde meine Verliebtheit zu ihm nicht verheimlichen, sondern zu ihr stehen.

Wir betraten den Abschnitt der Kreuzung, erwartungsvoll schaute ich Ben an. Sollte ich ihn umarmen? Nein, er sollte mich umarmen. Hallo, Mädel, umarme ihn gefälligst. Und zwar jetzt sofort. Der erste Schritt muss nicht immer nur vom Mann ausgehen, immerhin lebst du im 21. Jahrhundert!  Danke schön, innere Stimme. Aber das wusste ich schon. Trotzdem hörte ich auf den Rat meiner inneren Stimme, gab es überhaupt eine solche? - Immerhin sprachen wir einfach nur mit uns selbst und redeten uns ein, dass es unsere innere Stimme war. Egal, ich hatte Besseres zu tun, als mir darüber die Gedanken zu zerbrechen.

Ich trat einen Schritt auf Ben zu und legte dann meine Arme um seinen Oberkörper. Er erstarrte erst, bevor mich an sich drückte und ganz fest hielt. Dann ließen wir uns los und gingen jeweils unseren Weg. Sei stark, du siehst ihn morgen wieder, flüsterte ich mir zu.

- - -

"Hey, ich bin wieder zu Hause. Wie war euer Abend?", begrüßte ich meine Eltern zu Hause. Sie lagen schon in ihrem Bett und lasen ein Buch. Von ihnen hatte ich gelernt, dass Bücher immer ein Genuss waren.

Meine Eltern fanden es nicht schlimm, dass ich lange wegblieb, so lange dies nicht so oft passierte und ich Bescheid sagte, wenn ich wieder zu Hause ankam. Sie brachten mir Vertrauen entgegen und ich wollte dieses nicht ausnutzen.

"Wir haben eine Bratwurst gegessen und getanzt", antwortete Papa und Mama fügte hinzu: "Und stell dir vor, ich habe deinen Vater dazu überredet, mit mir Achterbahn zu fahren."

"Du hast Glück, dass du mein Schatz bist. Sonst wäre ich dir jetzt böse, dass du mich dazu überredet hast." Die beiden gaben sich einen Kuss. Meine Eltern hielten auch mit über vierzig noch Händchen und küssten sowie umarmten sich ab und zu. Wenn sie nicht meine Eltern wären, würde ich das sogar extrem süß finden, aber wie gesagt, diese zwei Menschen nennen sich meine Mutter und mein Vater. Die gleichen peinlichen Personen, die mit mir zu spät zu einem Klassentreffen mit Eltern kamen und als Ausrede erzählten, dass ich mir in die Hose eingeschissen hätte. Vor allen Mitschülern samt ihren Eltern. Peinlich. 

Oder als sie mich von der Klassenfahrt abholten und sich dann, um sich die Zeit bis zu meiner Ankunft zu vertreiben, küssten oder besser gesagt abschleckten. Noch peinlicher.

"Oh, und wir haben übrigens diesen Max, ne warte Bernd, kennengelernt", sagte Mama. "Ben, Mama. Er heißt Benjamin Turm."

"Und was habt ihr Schönes gemacht? Wie lief dein Gespräch mit Alex?"

"Erzähle ich euch morgen."

"Na gut, Schätzchen. Dann eine gute Nacht, dir", wünschte mir Mama. 

"Gute Nacht", sprachen Papa und ich gleichzeitig, bevor ich aus dem Zimmer verschwand.

So leise, wie es sich mir bot - bei einem knarzenden Holzboden - schlich ich nach oben und machte einen Umweg in die Zimmer meiner Schwestern, flüsterte ihnen jeweils ein "Träume süß" ins Ohr und gab ihnen einen Gutenachtkuss wie jeden Tag. Dann putzte ich mir unter einer kalten Dusche die Zähne und schmiss mich dann fertiggemacht ins Bett.

Am liebsten würde ich auf der Stelle einschlafen, doch meine Augen erblickten das Buch und meine Neugier gewann gegen die Müdigkeit.

Ich nahm das Buch von meinem Schreibtisch und schaute es von außen an, ich erkannte nichts Besonderes. Es war schwarz, keine Gravierungen, nichts. Innen blätterte ich grob durch die Seiten und stellte fest, dass auf jeder Seite etwas stand.

Ich begann auf der ersten Seite zu lesen.

Liebes Tagebuch,

heute ist der 1. April und ich habe ganz viele Scherze gemacht. Mama sagt, ich bin zu alt dafür, ich aber denke, dass ich mit fast 8 Jahren mir Scherze erlauben kann. Ich habe im Diktat eine Eins geschrieben und Papa war so stolz auf mich.

Bis dann, Jacko

Wow, so sah Jackos erster Tagebucheintrag aus. Nicht wirklich interessant. Nach ein paar Seiten entdeckte ich immer noch nichts Spannendes. Da mich die Kälte plagte, auch unter der Bettdecke, stand ich auf und zog mir eine warme Jogginghose an und schlüpfte in einen zu großen Pullover, den ich mir mal von Michael, meinem Bruder, ausgeliehen und den er noch nicht zurückverlangt hatte. Dann setzte ich mich wieder in mein Bett, an die Wand angelehnt, und überflog die Worte, bis mein Handy wieherte. Meine Schwestern hatten sich vor einer Woche gedacht, dass sie doch meinen Handyklingelton verändern konnten und ich hatte ihn noch nicht zurückgestellt. Nun klang es immer wie ein Pferd, wenn ich eine Nachricht bekam.

Ich öffnete WhatsApp. Angi hatte uns alle in einer gemeinsamen Gruppe namens Das alte Haus  hinzugefügt. Erst wunderte ich mich, woher sie Bens Nummer hatte, bis mir einfiel, dass er sie uns allen beim Pizzaessen gegeben hatte.

Angi: Seid ihr gut nach Hause gekommen?

Alex: Steht was in dem Buch drin?

Ich: Das ist Jackos Tagebuch. Bis jetzt erzählt er nur was Unspannendes aus seiner Kindheit/Jugend. Aber ich werde weiterlesen.

Ich: Und ja, ich bin gut nach Hause gekommen.

Alex: Sag Bescheid, wenn du was findest.

Ich: Mach ich. 

Während ich weiterlas, wurden meine Augen immer schwerer und schwerer, der Inhalt verschwamm in meinem Gehirn, vermischte sich mit Träumen.

Mein Handy wieherte und blinkte auf. Eine Nachricht. Ich nahm es unter Mühen in meine Hand, mein Arm fühlte sich so schwer an. Bei den letzten 10 oder 20 Seiten des Buches hatte ich nicht mehr aufgepasst, meine Augen waren alle paar Sekunden für Minuten zugefallen, es fiel noch nichts Spannendes vor. Kein einziges Wort über das alte Haus oder so.

Mein Handy, eine Nachricht, ich fiel in den Schlaf.

- - -

Liebes Tagebuch,

Ich weiß, dass diese Anrede irgendwie komisch und kindisch ist, jetzt, wo ich nicht mehr 12 bin, aber für mich gehört es einfach dazu.

Egal, anderes Thema. Wir haben heute, also meine Jungs und ich, einen alten Mann getroffen, der uns von so 'nem komischen Haus erzählt hat. Altes Hotel oder so was. Er hat uns von Geschichten, Legenden und Flüchen und so erzählt. Ich glaube an nichts. Er hat gesagt, wenn wir keinen Eid leisten, spürt er unsere Familien auf und bringt sie um, und das kann ich der Susi nicht antun. Selbst, wenn es nicht wahr wäre, was er erzählt hat, war der Mann selbst ganz schön echt und könnte die Susi auch ohne Grund töten. Vielleicht ist er ja krank und glaubt an Dinge und Geschichten, die gar nicht existieren. Nicht mein Problem. Er meinte, man kann in der Nacht entführt werden, deshalb werde ich dich, Tagebuch, ganz fest halten, obwohl ich nicht dran glaube. Höchstens ein bisschen, wirklich nur ein ganz kleines bisschen.

Jacko

L. Tagebuch,

Mist, die Geschichten sind wahr. Wir wurden in der Nacht hergebracht und sind im alten Haus.

J.

Das alte HausWo Geschichten leben. Entdecke jetzt