12. Unterschiedliche Familien

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MAJA

"Wir müssen dann mal gehen", verabschiedete sich Angelina von uns. Wir vollführten unseren speziellen Handschlag, Alex klatschte zum Abschied normal ein. Ben, der nicht wusste, wie er sich verhalten sollte, klatschte ebenfalls ein, dann verschwand das Paar hinter der Kurve. Da Alex nicht in Schneening wohnte, schlief er über das Wochenende bei Angelina. Ihm war es allerdings laut Angis Eltern nicht erlaubt, im selben Bett wie sie zu schlafen, doch damit kamen die beiden klar. Ben und ich nahmen den anderen Weg.

Nach unserem Ausflug zum alten Haus waren wir durch den gruseligen Wald in die Stadt zurückgekehrt.

 "Wo wohnst du eigentlich?", fragte ich neugierig.

"Ich wohne direkt neben der Bibliothek. Das gelbe Haus, nicht zu verfehlen." "Wie kommt es dann, dass ich dir noch nie begegnet bin? Vielleicht habe ich dich mal kurz gesehen, aber wahrgenommen nicht", überlegte ich.

"Ich glaube, ich hab dich auch noch nicht gesehen. Obwohl ich sehr oft in die Bibliothek gehe. Und auch in den Gottesdienst. Und durch die Stadt laufe ich auch täglich, wenn ich zur Schule gehe oder mit Carlos spaziere."

"Ich laufe auch zur Schule. Und ich bin auch oft in der Bibliothek oder in der Kirche! Und wer ist Carlos?"

"Mein Hund. Ein Golden Retriever."

"Ich wollte schon immer mal einen Hund haben!", rief ich aus. "Warte, ich gehe auch fast täglich mit dem Hund meiner Nachbarin raus. Und in diesem Ort gibt es nur eine Schule. Wie kommt es dann, das wir uns verdammt nochmal noch nie begegnet sind?"

Fragend schaute ich Benjamin an, als wüsste dieser die Antwort, doch er zuckte nur mit den Schultern.

"Wichtig ist doch nur, dass wir uns überhaupt begegnet sind. Ich sehe uns schon als altes, graues, hässliches Paar", scherzte er. Ich stieß ihn mit einem Arm in die Seite. "Ich werde weder alt, noch grau, noch hässlich. Ok, vielleicht werde ich alt, aber nicht grau oder hässlich", verteidigte ich mich. "Stimmt, hässlicher kannst du gar nicht mehr werden." Schockiert starrte ich ihn an, hielt aber nicht lange durch, denn sein herzliches Lachen steckte mich an.  Als wir endlich wieder zu Atem kamen, erzählte Ben: "Vielleicht haben wir uns in der Schule noch nicht gesehen, weil die Elftkässler dafür bekannt sind, in den Räumen zu bleiben. Und nach der Schule packe ich meistens langsam ein, rede noch ein bisschen mit den Lehrern und verlasse als Letzter den Klassenraum. Frühs komme ich dann sehr pünktlich, ich bin einer der ersten." 

"Oh, das erklärt einiges. Ich treffe mich meistens in den Pausen mit Angi in der Ecke, kurz für die Sitzecke. Wir haben kaum Kurse zusammen, also sehen wir uns in der Pause. Und nach der letzten Pause mache ich mich in normalen Tempo auf den Weg. Und frühs komme ich meistens nur wenige Minuten vor dem Klingeln, aber ich bin noch nie zu spät gekommen. Einmal habe ich bei Ausfall verschlafen und bin ungefähr zehn Sekunden vor dem Klingeln gekommen, aber die Lehrerin war auch zu spät."

Ben erzählte mir auch eine Geschichte aus der Schule, danach ich. Wir mussten oft lachen. Von der Ferne hörten wir noch immer die Musik von Bands auf dem Stadtfest, die Geräusche von Erwachsenen oder Jugendlichen. Kinder schliefen um diese Uhrzeit vermutlich schon.

"Wieso hast du eigentlich das Buch gestohlen?", fragte Ben plötzlich.
"Dieses Buch hatte mich magisch angezogen. Es hat gerufen, dass ich es lesen soll, dass es Geheimnisse verbirgt. Es war so ein Drang. Jacko hatte etwas zu verheimlichen, was mit dem Buch zu tun hatte. Und dann hat er auch noch aus diesem Buch vorgelesen. Ich dachte, es könnte wertvoll für uns sein. Ich werde es mir auf jeden Fall heute Abend anschauen."
"Ich schaute in Bens Augen. In der Dunkelheit erkannte ich deren Farbe nicht, doch ich wusste sie. Im flackernden Schein von Straßenlaternen leuchteten seine Augen braun-rot. Ich mochte sie. Die Farbe, die Augen, ihn.

"Ich bin mir nur leider nicht sicher, ob es das Richtige war, das Buch zu klauen. Ich meine, ich habe Diebstahl begangen."

Ohne dass mich irgendjemand vorwarnte, nahm Ben mich in den Arm, so dass mein Herz stolperte und dann losrannte. Es legte einen Sprint zurück, kurze, schnelle Schritte, es war nicht zu bremsen.

"Bezeichne es als Ausleihe. Du hast dem Mann dein Leben geschenkt. Du kommst laut ihm in das alte Haus, wenn du stirbst. Das hast du ihm gegeben und er hat seinen Preis gezahlt. Sieh es aus dieser Perspektive." Seine geflüsterten Worte in dieser Nacht beruhigten mich und gaben mir Hoffnung, dass meine Tat tatsächlich nicht so schlimm war, wie ich sie mir ausmalte. 

Langsam ließ er mich los und sein männlicher Geruch verschwand mit seiner Nähe.

"Hast du eigentlich Geschwister?", änderte ich das Thema geschickt und lenkte so vom peinlichen Moment ab.

"Ja, ich habe einen Bruder und eine Halbschwester. Mein Bruder heißt Leon und meine Schwester heißt Ronja. Wie sieht's bei dir aus? Hast du Geschwister?"
"Ja ich habe zwei jüngere Schwestern und einen älteren Bruder. Meine Schwestern heißen Miriam und Mariella. Sie sind Zwillinge und drei, ups zwei, meine ich, Jahre jünger als ich. Und mein Bruder, das ist der Michael. Er wohnt aber nicht mehr bei uns in Schneening, er ist nach Erfurt gezogen und besucht uns ab und zu mit dem Zug." "Was macht dein Bruder denn in Erfurt und wie alt ist er?", fragte Ben neugierig. "Er studiert dort Physik und Mathe als Nebenfach. Und er müsste jetzt 20 sein. Wow, schon so alt. Ach und meine Schwestern sind beide übrigens 15 Jahre alt. Hach, manchmal regen sie meine Mutter extrem auf, wenn sie betteln, dass sie mit ihnen etwas macht. So Teenagerkram. Das regt Mama immer so auf, dass die Zwillinge zu mir geschickt werden und ich diesen Krims Krams mit ihnen machen muss." "Du lebst bei deiner Mutter und bei deinem Vater oder?" "Ja, woher weißt du das?"
Er schmunzelte. "Ich habe deine Eltern vorhin kennengelernt. Sie haben erzählt, was für ein liebes und nettes Mädchen du doch bist und dass du christlich bist."

"Oh, oke. Und wohnst du auch bei deinen Eltern?" Ich schob meine Mütze zurecht. 

"Nö, sie sind schon seit ich klein bin nicht mehr zusammen und jeweils mit neuen Partnern verheiratet. Aber ich habe guten Kontakt zu beiden." "Und lebst du jetzt bei deiner Mutter oder deinem Vater?", fragte ich.

Während ich auf seine Antwort wartete, berührten sich kurz zufällig unsere Hände und ich zuckte zusammen. Ich wusste nicht, dass man auch von Menschen Stromschläge erlangen konnte.

"Ich wohne bei meiner Mom. Ja, ich weiß, ich bin Deutscher und sollte sie eigentlich Mama nennen, aber das habe ich mir irgendwie abgewöhnt."

Das alte HausWo Geschichten leben. Entdecke jetzt