27. Ein Fremder namens Sebastian

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MAJA

In meinem Kopf ließ ich den Streit mit Angelina immer wieder Revue passieren. Lag ich falsch? Lag sie falsch? Lagen wir beide falsch? Lag keiner falsch? 

Verbrachte ich wirklich zu viel Zeit mit Ben und zu wenig mit Angi? Ja. Ich hatte Angi am heutigen Abend sehr oft ignoriert und meine volle Aufmerksamkeit Benjamin geschenkt. Ich hätte mehr mit ihr machen sollen. Nun fühlte ich mich schlecht und wirbelte herum. Doch eine Person war mir nachgelaufen und versperrte meinen Weg, sodass ich gegen sie knallte.

"Au verdammt!", fluchte ich. Schmerzverzerrt blickte ich in Bens braune Augen. "Du kannst doch nicht einfach so im Weg herumstehen, ich muss zu Angi. Lass mich durch." Ich wollte mich an Ben vorbeizwängen, doch er hielt meinen Arm fest. Natürlich versuchte ich, mich freizuwinden, doch Ben verstärkte seinen Griff nur noch mehr, sodass ich nicht nur am Kopf, sondern auch am Arm Schmerzen erlitt. "Was soll das?! Lass mich los!" Vermutlich hätte ich in einer anderen Situation anders reagiert, doch ich war zerstreut und wütend und traurig. 

Ben suchte Blickkontakt und sprach leise und beruhigend auf mich ein.

"Angi ist in die andere Richtung gelaufen und Alex hinterher. Sie braucht ihn jetzt mehr als dich, damit er sie beruhigen und trösten kann. Alex hat mir versprochen, dass er sich und Angi sicher nach draußen bringt, aber nun sind wir auf uns allein gestellt. Die beiden ebenfalls. So lautet unser Schicksal. Du bist mehrere Minuten gelaufen. Wir finden nicht kehr zu den anderen zurück. Nicht in diesem Labyrinth." 

Mit großen Augen starrte ich ihn an. Was, wenn den beiden etwas passierte? Könnte ich mir das jemals verzeihen? Am meisten bereute ich, dass wir im Streit auseinandergegangen waren. Doch nun waren sie fort und wir mussten weiterkämpfen.

Ich wollte gerade gehen, als Ben mich zurückzog und seine Arme fest um mich legte. Wärme und Geborgenheit umschlossen mich. Nach wenigen Momenten ließen wir uns wieder los und schlagartig vermisste ich Bens Arme um meinen Körper.

Wir mussten weiter. Ich wollte nach Bens Hand greifen, doch der Moment war vorbei. Gemeinsam und doch allein. So würden wir dieses Abenteuer durchstehen. Angi und Alex hatten sich, sie liebten sich. So waren sie nie allein. Unsere Schritte hallten in der Stille lauter als zuvor. Überall, wo ich hinschaute, erblickte ich mein Spiegelbild. Zu oft sah ich mich selbst. Das verwirrte mich. Ich lief gegen einen Spiegel, doch nicht nur ich, sondern auch mein Spiegelbild schlug gegen das Glas. "Au. Dieser Raum zieht Verletzungen und gegen etwas Hartes zu knallen an." "Hast du dir wehgetan?", wollte Ben wissen. "Nein, natürlich nicht. Ich rede nur so von Verletzungen und davon, wie ich die ganze Zeit gegen Wände knalle. Mach dir bloß keine Sorgen um mich." Ben verkniff sich ein Grinsen. Diese Worte klangen stark nach Ironie und Ironie verlieh einem oft ein Grinsen, doch jetzt wollte ich keine Freude sehen. Mit dem, was ich sagte, wollte ich niemanden belustigen. Ich wollte nur ehrliche Aufmerksamkeit und diese war bei Ben nicht vorhanden, wenn er nachfragte, ob mir etwas wehtat. Ich war nicht in der Stimmung für Scherze.

Zu sehr in Grübeleien vertieft, bemerkte ich nicht, wie Ben jemanden entdeckte. Doch mit einem Ruck sprang Ben vor mich, als ob er mich beschützen musste. "Wer bist du?" Ben verdeckte mit seinem Körper die Sicht vor mir, doch die vielen Spiegel zeigten eine Person. "Sag mir erst, wer du bist", forderte der Fremde. Ich konnte nicht leugnen, dass er gut aussah. Seine dunklen Haare und die grauen Augen strahlten etwas Trauriges, aber gleichzeitig auch Starkes aus. Der Junge, vielleicht 19 Jahre alt, reichte von der Körpergröße bis zu Bens Kopf, so wie ich.

Er näherte sich uns und Ben wich zurück, bis er gegen eine starke Barriere stieß, mich. Ich drückte ihn wieder vor und drängte mich an seine Seite. "Ich bin Maja und das ist Ben", stellte ich uns vor. Als der Fremde schwieg, fügte ich hinzu: "Jetzt du. Wie heißt du?" Der Typ, der bis jetzt Ben fixiert hatte, richtete seine Aufmerksamkeit auf mich.

In seinem Blick wechselten sich die Emotionen ab. Erst betrachtete er mich mit Erstaunen, dann sah ich den Ausdruck des Schwärmerei und zuletzt huschten Sorge und Zweifel vorbei. Dann kehrte das Zweite zurück, er fand mich wohl gutaussehend. "Hey Maja." Seine Worte waren kaum ein Flüstern. Sie klangen gut aus seinem Mund, doch nicht schön. Es fühlte sich gut an von jemandem gemocht zu werden, aber noch schöner empfand ich es, selbst jemanden zu lieben. Bestenfalls jemanden, der einen zurückliebte. Dieses Gefühl sollte sich keiner entgehen lassen.

Bens Miene änderte sich, ich erkannte Eifersucht. Ungeduldig wiederholte er meine Frage. "Mein Name ist Sebastian." Dabei sah er nur mich an und ignorierte Ben völlig. "Was machst du hier?" Ben klang nicht neugierig, sondern so, als würde er einen Verbrecher verhören. Mit einem wütenden Blick mahnte ich ihn. "Ich bin hier aufgewachsen. Mein Vater hat mich nie nach draußen gelassen." "Warte, du warst noch nie draußen? So wie in Rapunzel?" Ich riss meine Augen weit auf. Ein Leben zu leben, obwohl man weiß, dass einem eine ganze Welt verheimlicht wird. Wie konnte man sich das antun?

"Was ist Raputze?"

"Rapunzel. Das Märchen", korrigierte Ben mit finsterem Blick "Hast du nie selbst versucht, rauszugehen? Heimlich?" "Das versuche ich schon mein ganzes Leben. Ich habe noch keinen Ausgang entdeckt."

"Du versuchst also dein ganzes Leben lang, einen Ausgang zu finden und hast immer noch keinen gefunden?" In Bens Stimme schwang ein Vorwurf mit. Wieso beurteilte Ben einen Menschen, den er kaum kannte, so negativ?

"Na ja. Eigentlich versuche ich es nicht seit schon immer. Erst, als ich gelernt habe, dass es auch noch etwas da draußen gibt. Und ich kann mich ja auch nicht immer wegschleichen. Nur, wenn mein Vater schläft. Und dann kann ich mich auch nicht weit wegschleichen, weil ich sonst nicht zurückfinde. Früher habe ich mich nur nachts fortgeschlichen. Und da es in der Nacht dunkel ist, bin ich nie weit gekommen. Mittlerweile traue ich mich auch mal weg, wenn er Mittagsschlaf hält." Sebastian ließ sich von Ben nichts anhaben, er giftete nicht mal zurück, was ihn in meinen Augen noch sympathischer machte.

"Und was hast du jetzt vor?", fragte ich.

"Ich wollte erkunden, doch dann habe ich mich in diesem Raum verirrt." Ohne auf Bens Zustimmung zu warten, lud ich Sebastian dazu ein, bei uns zu bleiben, bis sich unsere Wege trennten und er willigte, sehr zu Missgunsten von Ben, ein.


Das alte HausWo Geschichten leben. Entdecke jetzt