30.Gestrandet auf Bahnschienen

4 1 0
                                    

ANGI

Sobald ich über den Körper von Alex geklettert war, erreichte ich das Seil und hangelte mich daran hoch. Meine Hände begannen, zu bluten, so sehr schürfte das Seil in meine Haut. Ich wagte es, kurz nach unten zu schauen. Alex ließ ein paar Meter Abstand und bewegte sich am Seil entlang nach oben. Für ihn stellte sich das wohl als schwierigere Herausforderung als für mich dar, weil er das Seil noch um seine Hüfte gebunden hatte.

Weiter unten sah man nichts, man erkannte nur eine nichtssagende, tiefe Dunkelheit. Das machte mir Angst. Ich mochte so etwas noch nie. In der Grundschule, als wir an einem Seil hochklettern sollten, hatte ich mich immer geweigert und gesagt, ich wäre krank. Doch hier ging es ums Überleben. Wenn ich hier steckenblieb, würde ich sterben.

Weiter. Weiter.

Ich hangelte immer weiter nach oben, verscheuchte die bösen Gedanken und dachte daran, wie schön fester Boden unter den Füßen wäre. Nach einer gefühlten Ewigkeit hatten wir immer noch nichts geschafft. Es gab nichts, nur die Dunkelheit, das Seil, das endlos lang schien, und uns.

Plötzlich ging ein Ruck durch uns und wir befanden uns ein Stück tiefer. Es war, als würde jemand mit dem Seil herumspielen und uns tiefer sinken lassen und dann das Seil wieder hochziehen. 

Ich konnte nicht mehr. Wie einfach wäre es, einfach loszulassen. Vom Seil, vom Leben. Die Geschwindigkeit, mit der ich auf das Nichts zurasen würde, würde mich umbringen. Es wäre so einfach. Dann müsste ich die Schmerzen nicht mehr aushalten. Ich müsste meine Familie nicht mehr vermissen. Ich würde nicht bereuen, meine Träume noch nicht verwirklicht zu haben. Die Kraft schwand immer mehr.

Doch ich ließ nicht los. Ich gab nicht auf. Ich war immer noch stark.

"Alex, wir können das schaffen", sagte ich laut und voller Überzeugung.

"Jo, wir schaffen das!"

Ich lächelte und beschleunigte das Tempo. Irgendwo musste unser Seil aufhören. Und ich hatte Recht. Kurze Zeit später sah ich etwas, das nicht Nichts war. Unser Seil hatte sich an einem anderen Seil verhangen. Ich konnte nicht anders, als zu grinsen. Wir hatten es wirklich geschafft. Wir hatten nicht losgelassen. Wir sollten stolz auf uns sein. Wir hatten in unserem Leben etwas erreicht. Wir hatten bis jetzt ein gruseliges und gefährliches Haus überlebt.

Endlich berührte ich das andere Seil. Es verlief quer zu unserem Seil. Und ich entdeckte ein paar Meter entfernt einen Sitz, der aussah, als stammte er von einer Seilbahn. 

"Da müssen wir hin!", rief ich aufgeregt. Mit meinen Kopf deutete ich in die jeweilige Richtung.

Schon wenige Augenblicke später ließ ich mich auf den Sitz der Seilbahn nieder. Alex setze sich so hin, dass sein Gesicht zu meinem zeigte.

Er holte Schwung und schon befanden wir uns auf den Weg nach unten. Nach dem Seilklettern war es wunderschön, meinen Freund sehen zu können, doch bei unserer Fahrtgeschwindigkeit konnte ich meine Augen nicht lange offenhalten.

Als wir an einen Tiefpunkt angelangt waren, stiegen wir wieder auf und schwangen dann ein wenig hin und her. Die Seilbahn verlor an Geschwindigkeit, bis sie sich schließlich nicht mehr vom Platz löste. Ich machte meine Augen auf und blinzelte, bis ich mich an die Helligkeit gewöhnte. Direkt unter uns verlief eine Bahnschiene. Mitten in der Luft. Beinahe hätte ich vor Verwunderung die Augen aufgerissen, doch in so einem Haus war das nicht mehr ungewöhnlich.

Fragend schaute ich Alex an, er nickte. Wo sollten wir auch sonst hin? Vorsichtig stiegen wir von dem Sitz und ließen uns auf die Bahnschienen sinken. 

Wie sehr ich mir jetzt eine Wiese unter meinen Füßen zu spüren wünschte. Oder Holz oder Steine. Egal, Hauptsache, ich wäre nicht mitten in der Luft.

Wir glitten von dem Sitz der Seilbahn und betraten die Schienen. "Ich habe schon immer davon geträumt, allein auf einem Bahnhof zu sein, aber nie mitten in der Luft." Der Blick meines Freundes wanderte umher, als würde er etwas suchen. "Kann ich nur zustimmen. Aber das hier ist echt gruselig."

"Rechts oder links?", fragte er. "Ähm, links." Bevor wir uns auf den Weg machten, band Alex uns beiden ein Stück des Seils um den Bauch. "Falls einer von uns runterfällt, können wir uns eventuell retten und hochziehen." "Du machst mir Angst." Vorsichtig, als würde ich umkippen, wenn ich mich zu weit nach vorne beugte, blinzelte ich nach unten. Wieder mal nur Tiefe. Endlose Tiefe. Langsam gingen wir los. Schritt für Schritt. Wenn wir einmal danebentraten, konnte dies das Ende für uns bedeuten. Mein Herz klopfte laut und stark. Meine Hand fand die von Alex. Seine Finger schlossen sich um meine, bildeten ein musterumwobenes Gebilde. Ich wünschte, in mir würde dieses Kribbeln aufsteigen, was sich immer im Hintergrund meines Körpers abzuspielen schien, doch mein Körper konnte nicht vergessen, in welcher Höhe ich mich befand.

Wir schwiegen, beide wissend, dass wir keine Worte hinausbrachten. Die Höhe hatte uns ängstlich gemacht, die Lücken‚ zwischen den Schwellen, der Abgrund neben dem Gleis.

"Ich hab Angst, dass Maja und Ben etwas passiert ist", flüsterte ich. "Ich auch. Aber auch eine andere Sache beschäftigt mich." Erwartungsvoll blickte ich ihn an. "Welche Sache?" "Vorhin habe ich mir nicht so viele Gedanken darüber gemacht, weil wir alle zusammen waren, aber jetzt, wo Ben und Maja allein sind..." Diese Pausen machte Alex manchmal, wenn er etwas erzählte und mich trieb es jedes Mal zur Weißglut. Hatte er Angst, dass Maja und Ben zusammenkamen und ich dann am Boden zerstört sein würde, weil Maja nur noch Sachen mit ihm unternahm? "Wir kennen Ben gar nicht richtig. Was ist, wenn er nicht der ist, der er vielleicht vorgibt zu sein? Mann, dass war jetzt echt krasses Deutsch." "Du willst gerade erklären, dass Ben gefährlich ist und kommst dann damit, dass du jetzt Deutsch kannst?" "Sorry." Alex machte ein zerknirschtes Gesicht. "Was ich sagen wollte, ist wirklich, dass wir Ben zu schnell vertraut haben. Wir wissen kaum etwas über ihn und jetzt ist er ganz allein mit Maja in diesem riesigen Haus unterwegs." "Du denkst doch nicht etwas, er könnte ein Messer dabeihaben?" Geschockt riss ich meinen Mund auf und direkt schlich sich eine Vorstellung in meinen Kopf. Wie Ben auf Maja losging, mit einem großen Messer in der Hand. Schnell schüttelte ich meinen Kopf. Das Bild war zu schrecklich.

"Du weißt aber schon, dass man Menschen nicht nur mit Messern töten kann." Alex machte ein ernstes Gesicht. "Und es kann auch sein, dass er sie nicht töten möchte, sondern dass er sie anders verletzen möchte." Ich dachte an all die Szenarien, die sich zwischen Ben und Maja abspielen könnten und bekam eine Gänsehaut. "Oh nein." Geschockt achtete ich einen Moment lang nicht, wo ich meinen Fuß hinsetzte. Dieser trat auf das Ende des Gleises und rutschte ab. Zum Glück konnte ich mich an Alex festhalten. Sobald ich wieder sicher auf dem Gleis stand, würdigte mich Alex keines Blickes, sondern fixierte einen Punkt in der Ferne.

"Angi, was ist das?" Seine Stimme zitterte. Langsam richtete sich mein Blick auch nach vorne, wo ich ein helles Licht erblickte, dass immer näher zu kommen schien.


Das alte HausWo Geschichten leben. Entdecke jetzt