Sechzehntens

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Tatsächlich ließ Jonah sich bis Mittwoch Zeit mit einer Antwort. Wobei seine Worte nicht einmal ausdrücklich sagten, dass er am Freitagabend dabei sein würde. Eigentlich sagte er nur: »Viel Erfolg, lass dich nicht runterkriegen.«, was im Grunde ganz und gar nicht »Ich werde an Emmas Geburtstag dabei sein« implizierte.

Aber er war da, wartete vor dem Krankenhaus mit einer Packung Salzstangen. Emma musste ihm verraten haben, dass ich die gerne aß, anders konnte ich mir sein Auftreten nicht erklären. Meine Mutter schenkte mir jedenfalls am Eingang ein Lächeln und ging hinein um mich an der Rezeption anzumelden, während Jonah, vorbildlich ohne Kippe, und ich draußen stehen blieben und einander schweigend ansahen.

Jedenfalls seit seiner »Viel Erfolg, lass dich nicht runterkriegen«-Begrüßung. Ich zog mit meinem Fuß kleine Kreise über den Astphalt und versuchte nicht daran zu denken, wie wütend es mich machte, dass er sich so selten meldete. Versuchte stattdessen zu begreifen, wieso er sein Handy nicht wie jeder andere Teenager benutzen konnte, mir klar sagen konnte, was er wollte oder eben nicht wollte.

Mit zusammengepressten Lippen hob ich den Blick von meinen Schuhen und sah ihm stattdessen ins Gesicht. »Deine letzte Sitzung«, kommentierte er.

»Ich weiß«, sagte ich lediglich. Als ob ich es nicht wüsste, als ob ich nicht die Tage runtergezählt hätte, bis zu diesem wundervollen Tag Zero, der gleichzeitig so viele andere Dinge mit sich brachte.

»Aufgeregt?«

»Nicht wirklich. Ein Mittwoch wie jeder andere auch.«

»Vor nächster Woche, meine ich.«

Ich zuckte mit den Schultern, auch wenn die Aufgregung inzwischen jegliche Fasern meines Körpers eingenommen hatte.

Jonah wippte unruhig hin und her, dann stieß er einen Seufzer aus und wandte den Blick zu den Parkplätzen. »Ich trinke nicht.«

»Ich darf auch nichts trinken.«

»Willst du es denn?« Seine Augen trafen meine. »Ich würde nämlich wirklich gerne und deswegen gehe ich nicht auf Partys.«

Meine Naivität wollte ihm anbieten die Fahrerin zu spielen, doch irgendetwas in seinem Gesichtsausdruck hielt mich zurück, sagte mir, dass es nicht an der Autofahrt lag, dass es nicht die Party selbst war und vielleicht nicht einmal die fremden Gäste. »Ich habe mich damit abgefunden, dass Partys nur bis zu einem gewissen Rahmen möglich sind.«

»Daran arbeite ich noch.«

»Wieso lässt du dir nicht helfen?«

»Woher willst du wissen, dass ich mir nicht helfen lasse?«

»Weil du nicht mit mir sprechen kannst. Ich würde dir gerne helfen, ich will mit dir befreundet sein, Jonah, dir beistehen. Aber du stößt mich weg, sobald ich auch nur eine Winzigkeit deiner Vergangenheit in Erfahrung bringen kann.«

»Es gibt nicht viel zu erfahren«, entgegnete er und zuckte mit den Schultern.

Ich machte den Mund auf, wollte gerade etwas darauf erwidern, als meine Mutter heraustrat: »Kommt ihr rein? Dr. Iyer wartet schon.«

Jonah sagte nichts, stand betreten vor mir und schien nicht so recht zu wissen, was er mit sich anfangen sollte. Ich beschloss den ersten Schritt zu machen, schon wieder. Vielleicht würde es zwischen uns einfach so laufen müssen, vielleicht wagte er es einfach nicht den ersten Schritt zu machen. Ich griff nach seiner freien Hand und verschränkte vorsichtig meine Finger mit den seinen, versuchte den Blick meiner Mutter zu ignorieren, versuchte zu vergessen, wie viele Menschen uns sehen konnten, versuchte aus meinen Gedächtnis zu verbannen, wie die Mädchen in meinem Flur über Jonah getuschelt hatten, wie sie ihn um mysteriöse Gerüchte umwoben hatten und ihn hinter ihren Fenstern anhimmelten.

Ich war ja selbst eine von ihnen gewesen.

Jonah musterte mein Gesicht und ich rang mir erneut ein Lächeln ab. »Das erste letzte Mal?«, fragte ihn und zog ihn in Richtung der Eingangstüren. Er ließ sich von mir führen, drückte meine Finger, gab mir halt - oder ich ihm?

»Ich dachte du möchtest in Ruhe gelassen werden. Jedenfalls während und nach der Chemo.«

»Jetzt bist du ja hier«, erwiderte ich und bereute die Worte. Sie klangen harsch, genervt, nicht so wie sie sollten. »Jemand von uns muss den ersten Schritt tun.«

»Du bist unfassbar mutig, Deena«, flüsterte er mir zu. Meine Mutter erreichte den Fahrstuhl und drehte sich wieder zu uns. Jonah rückte augenblicklich von mir weg, brachte wenige Zentimeter abstand zwischen uns beide, seine Hand noch immer in meiner.


Jonah blieb die ganze Sitzung über. Fünfundvierzig Minuten lang saß er an meiner Seite und blätterte lustlos durch die Bücher, die die Klinik den Patienten zur verfügung stellte oder tigerte durch den Raum, während ich träge in meinem Sessellümmelte und der Infusion dabei zusah, wie sie über den Port in meinen Körper gelangte.

»Wird dir der eigentlich während der OP abgemacht?«, fragte Jonah, den Blick unter mein Schlüsselbein gerichtet, während die Schwester mich entkabelte.

»Der Port?«, fragte ich und hob meine Hand um auf den Katheter zu zeigen. Jonah nickte, ließ den Blick nicht von mir ab. Mit den Fingern trommelte er nervös gegen das Buch in seinen Händen. »Der bleibt. Ist sicherer, falls - « Ich brachte die Worte nicht über meine Lippen und die Krankenschwester drückte sanft meine Schulter, bevor sie sich von uns beiden abwandte. Die Geste war nett gemein, doch sie gab mir keinesfalls die nötige Kraft die ich zum aussprechen dieses Satzes benötigte.

»Wie optimistisch«, kommentierte Jonah und löste sich von der Wand, an der er bis eben gelehnt hatte. Ich zog meine Mundwinkel sachte nach oben.

»Reine Sicherheitsmaßnahme«, sagte ich, weil ich diese Worte hören wollte, weil ich an sie glauben musste bevor ich in all dem Chaos noch endgültig den Verstand verlieren würde.

»Reine Sicherheitsmaßnahme«, wiederholte er und kam auf mich zu, legte das Buch halbherzig auf der Sessellehne ab und lehnte sich zu mir vor. Mir stockte er Atem und ein großer Teil wollte ihn von mir stoßen, weil ich mich vor mir selbst ekelte, ein anderer, der größere, wollte ihn noch näher ziehen.

»Jonah«, brachte ich leise hervor, ohne mir wirklich sicher zu sein, was genau ich eigentlich sagen wollte.

»Mhm?«

»Lass uns gehen, okay?« Ich reichte ihm meine Hände und er zog mich vorsichtig hoch. Ich genoss das Gefühl seiner Haut auf meiner, sein Daumen strich über meinen Handrücken, mein Magen vollführte eine Drehung und für einen schrecklichen Moment glaubte ich, mich sofort übergeben zu müssen. Ich lenkte meinen Blick von ihm fort, versuchte mich stattdessen auf meine Mutter zu konzentrieren die vermutlich bei Mrs. Bringshot war und mit ihr plauderte. Mir Jonahs Nähe nur all zu bewusst, versuchte ich mir einen Weg durch den Raum zu bahnen, nicht das er außerordentlich gefüllt war, eigentlich war kaum was los, doch meine Beine fühlten sich schwach und wackelig an. Jonah legte mir seine Hand auf den Rücken.

Ich atmete tief ein, gewann an Kraft für einen weiteren Schritt nach vorne. Scheiß Chemo-Therapie, scheiß Beine. scheiß Brüste und scheiß Krebs. »Alles okay?«, fragte Jonah leise neben mir, den Blick zu Boden gesenkt, als hätte er Angst davor, mir oder den anderen Patienten zu Nahe zu treten.

»Müde«, murmelte ich, versuchte nicht an meine zittrigen Glieder, an mein miserables Aussehen oder die flaue Gefühl im Magen zu denken, versuchte mich auf Jonahs wohltuende, verrücktmachende Hand zu konzentrieren, versuche meine Mum zu finden, versuchte irgendwie nach Hause zu kommen.

Die letzte Chemo.

Das würde die Letzte sein.

Und wehe, wenn nicht für immer.



ha ha erste

A Pain That I'm Used ToWo Geschichten leben. Entdecke jetzt