Eine Portion Erdbeereis mit extra Sahne

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Wenn die Sonne an einem Ort untergeht,

geht sie zur gleichen Zeit

an einem anderen Ort wieder auf.

Montag, 10.08.2020

Raylyn

Der Morgen fühlte sich recht frisch an, dafür dass wir Mitte August hatten. Ich trug zudem auch nur ein weißes T-shit und eine dünne pinke Weste. Meine Beine in der Jeansshorts froren ganz besonders, doch gegen Mittag würden die Temperaturen ansteigen, so zumindest sagte es der Wetternachrichtendienst auf meinem Handy. Auch mein zwei Tage alter Verband um die Wade machte sich gut in Kombination mit meinem Outfit. Aber war's eben drum. Um meine Schultern hatte ich eine geräumige Tragetasche geschlungen, darin befand sich ein schwerer Ordner, der so ziemlich mein ganzes Leben beinhaltete. Zumindest ließ er keine Tragödie aus, angefangen mit meiner Geburt am 07.01.2003 in der Dalton Frauenklinik, endend mit meinem Krankenhaus- und Polizeiwachenbesuch vergangenen Samstag. Meine Mutter hatte dem Ordner den Namen „Wichtige Unterlagen" verpasst, doch wäre es nach mir gegangen, hätte dieser deutlich zynischer geklungen. Spontan fiel mir da zum Beispiel „100 Dinge, die Sie tun können, um sich Ihr Leben entgleiten zu lassen."

Schritt eins: „Kommen Sie möglichst unerwartet und ungebeten, sodass Ihr Vater, ein bedeutungsloser One-Night-Stand Ihrer Mutter, niemals wird ermittelt werden können und Ihre Mutter stets vollkommen überfordert mit Ihnen sein wird."

Ja, als Autorin eines solchen Lebensratgebers hätte ich echt etwas drauf. Vielleicht sollte ich es mal versuchen, im betreuten Wohnen, wo man nach 19.00 Uhr nicht mehr nach draußen durfte, würde ich gewiss genügend Zeit dafür haben.

Aber ich musste zugeben, dass ich dieses eine Mal dankbar für und froh über den Ordnungsfanatismus meiner Mutter war. Sämtliche Unterlagen und noch einige mehr, als die, die The Secret haben wollten, hatten sich vorsortiert und mit nur einem gezielten Griff ins Regal auffinden lassen. Vielleicht würde ja gerade das mir helfen, eben von diesem Ordnungsfanatismus und dessen Träger loszukommen, wie zynisch.

Oben auf der öffentlichen Veranda der oberen zwölf Wohnparteien des U-förmigen Apartmentgebäudes hielt ich nach meinem angekündigten Abholdienst Ausschau. Da stand ein Wagen auf dem Parkplatz, der mir sehr fremd und sehr besonders vorkam, im Vergleich zu den üblichen Schrottkarren, und Pick-ups mit seltsamen Ladungen, die hier normaler Weise parkten. Der weinrote Wagen war sehr groß, die Motorhaube breit und protzen, im Ganzen ziemlich lang, abgedunkelte Scheiben. Neben dem Wagen stand ein Mann im formellen Anzug, den Blick nach oben auf die Veranda, nein nach oben, auf mich gerichtet. Konnte das mein Chauffeur sein, mein Wagen?

Ich mühte mich die Treppen mithilfe der Krücken hinab, meine Knie zitterten leicht vor Aufregung. Was hatte Jasper noch in seinem Vortrag gesagt, dass in The Secret alle aus einem Topf lebten, und es deshalb zu solch etabliertem, gerecht aufgeteilten Reichtum geschafft hatten? Und Danny wollte mir ernsthaft davon abraten, mir ein Stück von diesem Kuchen, dieser graziösen Torte zu nehmen. Wieso? Ich hatte es doch verdient, nach all meinem Leiden und im Anschluss an all meine dunklen Stunden. Ich hatte auch mal Gutes, Besseres verdient. Danny konnte das ja nicht verstehen. Er hatte durch seinen Vater doch immer schon Reichtümer und Privilegien genossen. Er hielt zwar nicht viel von seinem Vater, doch wenigstens hatte er einen und dieser kam für ihn auf und das nicht gerade zu kurz. Ob Danny und Jasper wohl ebenso solche Wagen fuhren?

Ich überquerte den leergefegten Innenhof so rasch wie möglich, meine Schenkel überzogen von einer Gänsehaut des Fröstelns. Endlich kam ich auf dem Parkplatz an. Der Mann im Anzug und ich hatten Augenkontakt. Er nickte mir zu. „Ms. Winters?", fragte er mich. Mein Herz machte einen Satz. Dieses edle Aufgebot war tatsächlich meiner Wenigkeit gewidmet. „Ja", erwiderte ich und konnte nicht umhin verhalten zu grinsen. Der Mann schritt augenblicklich um den Wagen herum und öffnete mir die Tür, die freie Hand elegant auf dem Rücken haltend. „Danke", murmelte ich, nun doch etwas verlegen und stieg in den Wagen.

The Secret (BUCH I + 2) Als Mein Vergewaltiger Mir Blumen BrachteWo Geschichten leben. Entdecke jetzt