Yennefer band auch die Zügel von James' Pferd an dem Baum fest und warf über ihre Schulter einen Blick auf Grace. Die Rothaarige hatte sich unter einem umliegenden Baum niedergelassen und ihre Beine an den Körper herangezogen.
„Ist dir kalt?", wandte Yennefer sich an sie, während sie eine der Satteltaschen von dem Rücken ihres Pferdes nahm und sich dann auf sie zubewegte. Nach einiger Weile hatten sie sich dazu entschieden einen Rastplatz zu suchen und dort die Nacht zu verbringen. Dieses Mal war Yennefer nicht dagegen gewesen eine Pause einzulegen. Stattdessen hatte sie an James Wunde gedacht und war nicht davon ausgegangen, dass er sich darum kümmern würde, wenn sie weiter ritten und riskieren, dass daraus eine ernsthafte Beeinträchtigung für sie wurde, wollte sie nicht. Nach wenigen Stunden waren sie auf eine Lichtung gestoßen und hatten sich deshalb dazu entschieden sich dort niederzulassen.
„Ein wenig", antwortete Grace und brachte Yennefer damit dazu ihren Blick erneut auf die Rothaarige zu richten.
„Keine Sorge", sie trat von den Pferden zurück und bewegt sich stattdessen auf den kleinen Lagerplatz zu:"James kommt gleich bestimmt wieder."
Der Monsterjäger war, nachdem er abgestiegen war, sofort zwischen den Bäumen verschwunden, um nach Holz für ein Feuer zu suchen. Nun war er aber doch schon eine Weile weg und sie begann sich zu fragen, weshalb er so lange brauchte. Langsam neigte sich nämlich auch dieser Tag seinem Ende zu und ließ es deutlich kühler werden.Sie legte die Tasche in Grace Nähe auf den Boden und betrachtete das Mädchen für einen Moment, bevor sie sich dazu entschied ihren eigenen Mantel auszuziehen.
„Du kannst den hier nehmen, bis James wiederkommt", bot Yennefer ihr an und ließ sich neben ihr nieder. Der Boden war hart und kalt und sie war sich bereits sicher, dass diese Nacht nicht unbedingt angenehm werden würde. Allerdings war es mit Sicherheit weitaus besser, als die ganze Nacht weiterzureiten und Erschöpfung konnten sie sich nicht leisten, falls sie noch einmal in einen Kampf geraten würden. Immerhin war James bereits verletzt und auch für Yennefers Magie würde Müdigkeit nicht unbedingt förderlich sein. Langsam begann sie deshalb einzusehen, dass es nichts brachte zu versuchen die komplette Strecke, ohne Pausen zurückzulegen. Auch, wenn sie anfangs strickt dagegen gewesen war. Ihr Stolz wurde sie allerdings daran hindern zuzugeben, dass sie Unrecht gehabt hatte.„Danke", erwiderte Grace und griff nach dem Mantel. Dabei wirkte sie allerdings kleinlauter, als Yennefer es bisher von ihr gewohnt war. Und das, obwohl sie noch nicht sonderlich lange miteinander reisten. Mit leicht sorgenvollem Blick wandte sie sich dem Mädchen zu und musterte sie. Grace zog sich den Mantel über die Schulter, verblieb jedoch in ihrer zusammengekauerten Position.
„Was ist los?", fragte Yennefer in sanftem Tonfall und ließ sie dabei nicht aus den Augen. Sie konnte sehen, dass irgendwas nicht stimmte. Auch wenn man es nicht vermutet hätte, konnte sie Kinder ausstehen und auch Grace bildete da keine Ausnahme. Außerdem fühlte sie sich durch den Auftrag, den sie angenommen hatte, für die Prinzessin verantwortlich.„Nichts", antwortete diese daraufhin allerdings nur knapp und mit einem Kopfschütteln. Automatisch hob Yennefer eine ihrer dunklen Augenbrauen. Es war nicht schwer zu erkennen, dass sie es einfach nur sagte, um nicht darüber sprechen zu müssen, was wirklich los war. Zwar wusste sie, dass es vielleicht die bessere Idee wäre sie einfach in Ruhe zu lassen und nicht weiter nachzufragen, doch sie konnte nicht anders.
„Bist du sicher?", hakte sie deshalb stattdessen weiter nach:"Wir werden vermutlich noch eine ganze Weile unterwegs sein und vielleicht sind wir in der Zeit deine einzige Gesellschaft."Damit brachte sie Grace dazu ihren Blick vom Boden, auf den sie ihn zuvor geheftet hatte, zu heben und die Schwarzhaarige direkt anzusehen. Dann seufzte sich einfach nur und lehnte sich ein wenig mehr gegen den Baum, bevor sie zugab:"Ich mache mir Sorgen um meine Familie."
Bei dem letzten Wort verkrampfte Yennefer sich leicht und begann sich selbst dafür zu verfluchen weiter nachgefragt zu haben. Das Thema Familie war eine der Sachen, in denen sie tatsächlich nicht sonderlich gut war und über das sie selbst nicht gerne sprach. Wer redete auch gerne über die Leute, die kein Problem damit gehabt hatten, dass man ihre Tochter mitnahm und sie seitdem nicht wiedergesehen hatte?Von ihrem eigenen Unbehagen in Bezug auf dieses Thema versuchte sie sich allerdings nichts anmerken zu lassen und fragte stattdessen:"Warum?"
Natürlich konnte sie sich selbst denken was der Grund war. Immerhin war dieses Königreich dabei mitten in einen Krieg zu geraten, mit dem es eigentlich nichts zu tun haben wollte und Graces Vater war zufällig das Oberhaupt. Genug Gründe, um sich zu sorgen, gab es also allemal. Trotzdem wollte sie es von ihr hören, in der Hoffnung so ein wenig mehr über die Prinzessin zu erfahren und sie vielleicht ein bisschen näher kennenzulernen. Und vielleicht würde sie ihr ja doch helfen können. Auch, wenn sie daran selbst nicht unbedingt glaubte.„Mein Vater tut so, als wäre das alles nur eine Vorsichtsmaßnahme, aber ich weiß genau, dass es schlimmer ist, als er es zugeben will", antwortete sie und richteten ihren Blick nun direkt auf Yennefer:"Wenn er mich nicht weggeschickt hätte, wüsste ich zumindest, ob es ihm gut geht oder nicht."
Grace wusste, dass er die richtige Entscheidung getroffen hatte – auch wenn sie ihr nicht gefiel – und dass es so für sie vermutlich sicherer war. Allerdings beunruhigte es sie trotzdem nicht zu wissen, wie es um ihre Eltern stand. Soweit sie die anderen Königreiche kannte, wusste sie nämlich, dass keiner der beiden Regeten einfach ein nein akzeptieren und wieder verschwinden würde. Doch auch wenn ihre Beziehung zu ihrem Vater nicht selten eher kühl war und er ihr viel verschwieg, wollte sie nicht, dass ihm etwas geschah. Nicht nur um den Willen des Königreiches, sondern auch um ihren eigenen.„Er hat dich weggeschickt, damit du sicher bist und er sich keine Sorgen um deine Sicherheit machen muss, während er sich seinen Aufgaben als Herrscher zuwendet", sagte Yennefer nach einigen Sekunden des Schweigens, in denen sie darüber nachgedacht hatte, was sie darauf am besten antworten sollte:"Hätte er einen besseren Weg gewusst, hätte er ihn sicher gewählt. Manchmal müssen wir alle Sachen machen, die uns nicht gefallen oder vor denen wir sogar Angst haben."
Grace senkte ihren Blick wieder und ließ Yennefers Worte in ihrem Kopf widerklingen. Vielleicht lag sie damit gar nicht falsch. Vermutlich hätte ihr Vater auch lieber eine Lösung gefunden, die sie nicht trennte und bei der er sich selbst davon überzeugen konnte, dass es ihr gut ging.„Vermutlich", antwortete sie deshalb mit einem zögerlichen, aber dankbaren Lächeln. Dem jungen Mädchen wurde, genauso wie in der Nacht, in der sie das Schloss verlassen hatte, bewusste, dass er weder die Magierin noch den Monsterjäger wirklich gut kannte. Und das, obwohl seit Beginn ihrer Reise bereits feststand, dass sie von nun an sehr viel Zeit miteinander verbringen würden und dass die beiden vermutlich die einzigen sein würden, in deren Gesellschaft sie sich befinden würde. Beide Mutanten machten keinen allzu gesprächigen Eindruck. Zumindest nicht, wenn es darum ging etwas aus deren Leben zu erfahren.
Bevor sie ihr Gespräch weiterführen konnten, war hinter ihnen das laute Knacken eines Astes zu vernehmen und Yennefer fuhr automatisch herum. Dadurch erblickte sie James, der gerade zwischen den Bäumen hervortrat. In den Armen hielt er mehrere Stöcke von unterschiedlicher Dicke.„Ich bin's nur", sagte er, als er ihre Reaktion bemerkte und bewegte sich auf die beiden Frauen zu.
„Warum hat das so lange gedauert?", fragte Yennefer mit leicht hochgezogener Augenbraue, da er dafür, dass er nur Holz sammeln wollte, überdurchschnittlich lange gebraucht hatte. Ihr Blick richtete sich allerdings automatisch auf die Stelle an seinem Arm, an dem der Stoff seines Hemdes die Verletzung bedeckt, die bei dem Kampf gegen den Greif entstanden war.
„Ihr könnt ja beim nächsten Mal losgehen, wenn Ihr denkt, dass Ihr schneller seid", brummte er daraufhin nur zur Antwort.
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Kingdom of Despair
Fantasía| 2022 & 2021 WATTY'S SHORTLIST | James lebt als Monsterjäger in einer Welt, in der es nicht angesehen ist, anders zu sein, und fühlt sich nichts verschrieben außer sich selbst. Von dem aufkommenden Krieg zwischen zweien der drei Königreiche will er...